Vor zwei Tagen fand im Rahmen des Vorprogramms der Salzburger Festspiele 2025 ein Monodrama im Mozarteum statt. Kassandra, die unglückliche Seherin aus Troja, stand im Mittelpunkt der konzertanten Aufführung. Die Priesterin und Seherin hatte das Unglück vorausgesehen, doch niemand schenkte ihren Worten Glauben. Musik und Tragödie trafen wuchtig aufeinander. Das inspirierte mich zu diesem Gedicht. Mögen auch Jahrtausende verstrichen sein, Kassandra ruft immer noch vergeblich in die Welt.
Ich bin die, die sieht,
doch nicht gesehen wird.
Die über Schlachtfelder geht
mit nackten Füßen aus Licht.
Ich trug Lorbeer,
ich trug Staub.
Ich wurde geliebt,
um zum Schweigen verdammt zu werden.
Ich bin der Schrei,
der in Archiven vergilbt.
Ich bin die Wahrheit
– geächtet aus Bequemlichkeit.
Ich stand auf den Mauern,
rief mit bebendem Mund:
„Brennt den Gaul,
bevor er euch frisst.“
Doch der Wein war süßer
als meine Warnung.
Sie lachten,
küssten ihre Kinder
und trugen mich fort
wie eine lästige Krankheit.
Und in der Nacht –
hörte ich die Messer
an Kehlen singen.
Ich warf meine Stimme
gegen Steine,
sie fiel zurück –
als Asche.
Ich stand auf dem Maidan,
sang mit verbrannten Kehlen,
rief: „Achtet auf das Flattern der Fahnen –
es deckt euch zu wie ein Leichentuch.“
Doch sie sahen nur Farben.
Ich stand in Gaza,
wo jedes Wort
mit Sand bedeckt wird.
Ich sagte: „Kein Krieg bringt Recht,
nur Hunger, nur Lücken in Armen.“
Man schloss die Tore vor meiner Stimme,
sagte:
„Die Zeiten sind zu komplex für Visionen.“
Und wieder fiel ich,
schweigend,
in den Rachen der Gleichgültigkeit.
© Sonja Runtsch-Dworzak 2025-07-25