Das Leistungsdenken meiner Mutter hat mich bis ins Erwachsenenalter hinein begleitet. Ich hatte gewissermaßen ihre Maßstäbe zu den meinen gemacht und verinnerlicht, dass ich alles, was ich tat, eigentlich hätte besser machen können. Nicht dass meine Mutter so eine Koryphäe gewesen wäre, das war es nicht. Es war vielmehr, dass die Messlatte, die sie anlegte, dem Erwachsenen-Standard entsprach. Es mangelte ihr schlichtweg an pädagogischem Wissen. Dass bei der Beurteilung von Fertigkeiten der Entwicklungsstand eines Kindes mit berücksichtigt werden muss, davon hatte sie wenig Ahnung.
Jetzt blicke ich mit Milde zurück und kann Verständnis aufbringen für sie. Es ist schließlich kein Meister vom Himmel gefallen. Und ich halt auch nicht.
Bei uns allen kommen die ersten Buchstaben ungelenk und zittrig aufs Papier. Mein erster gehäkelter Topflappen war vollkommen windschief. Viele meiner Versuche, ein Haus in Perspektive zu zeichnen, schlugen fehl. Probieren geht über Studieren. Das Leben ist eine Kette von Lernschritten. Scheitern darf sein.
Mir ist jedoch eine Situation erinnerlich, in der die Äußerungen meiner Mutter auf taube Ohren stießen. Ich ging in die 2. Klasse Volksschule. Wie so oft verbrachte ich den Nachmittag mit Zeichnen. Eine Kirche nahm ich mir vor. Ich hatte eine klare Vorstellung, was eine Kirche ausmacht. Viele bunte Fenster, ein stattlicher Kirchturm, Glockengeläut. Und so kam es, dass ich mit Hingabe zwei Glocken zeichnete, eine große und eine kleine. Ich färbelte sie gelb an, denn ich stellte sie mir golden vor. Diese zwei Glocken baumelten an einem Faden rechts vom Kirchturm wie Geschenkanhänger an einem Weihnachtspaket. Meine Zeichnung, so glaubte ich, bildete die Realität haargenau ab. Ich war stolz, denn die Form der Kirchenglocken war mir besonders gut gelungen. Deshalb verwunderte mich die Äußerung meiner Mutter. Die Zeichnung sei schon schön, meinte sie, nur die Glocken gehören weg. Weil man sie angeblich nicht sieht.
Sie redete auf mich ein, versuchte mich zur Einsicht zu bringen, aber ihre Argumente leuchteten mir nicht ein. Ihre Kritik prallte an mir ab. Ich hatte eine perfekte Kirche gezeichnet. Basta. Ich wusste, ich war im Recht. Mit dem Sehvermögen meiner Mutter stimmte etwas nicht.
Heute weiß ich, es gibt eine Entwicklungsphase von Kindern, in der sie durch Mauern hindurchsehen. Sie zeichnen Dinge, von denen sie wissen, dass sie vorhanden sind, wenn auch fürs Auge unsichtbar. Für Kinder zwischen 5 und 8 ist das völlig normal. Jedenfalls, ich zeichnete unbeirrt weiter, bildete die Dinge ab, wie ich sie sah.
In den 1960er-Jahren lief im Fernsehen eine Sendung, die mir gefiel: „Die kleine Zeichenkunde”. Als ich 10 oder 11 Jahre alt war, schickte ich eine Zeichnung ein, Kinder auf dem Spielplatz in schwarzer Tinte. Zu meiner Überraschung landete sie auf dem 3. Platz . Mein Name wurde in der Sendung verlesen. Die Ölkreiden, die mir als Preis zugeschickt wurden, habe ich heute noch.
© Sonja M. Winkler 2020-08-18