Erinnerungen an Vorkommnisse, die im ersten Drittel unseres Lebens stattfanden, sind mit Einzelheiten gespickt, und wir können sie bis ins hohe Alter abrufen. Das kommt daher, dass sich in der Lebensspanne 0 bis 30 die meisten ersten Male ereignen, die emotional stark besetzt sind. Später, besonders in der zweiten Lebenshälfte, drohen wir in der Routine alltäglichen Einerleis zu versinken. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir für weitere erste Male sorgen und unser Gehirn mit Erlebnissen füttern, an die es sich zu erinnern lohnt.
Gestern entführte mich meine Wanderfreundin Susi in eine Gegend, in der ich noch nie war: das Elsbeerreich bei Michelbach.
Als wir uns vor dem Bio-Hof „Auf der Prinz“ befanden, so lautet nämlich sein Vulgoname, stutzte ich ob des weiblichen Geschlechts von „Prinz“. Ich vermutete, es könnte von mittelhochdeutsch „brinnen“ abgeleitet sein und auf frühes Urbarmachen durch Brandrodung hindeuten. Dem wollte ich tags darauf nachgehen.
Da näherte sich uns ein männlicher Prinz, ganz und gar ohne königliche Insignien, doch entpuppte er sich als engagierter Jungbauer und lud uns ein auf eine Führung durch sein Reich, das erst 2019 errichtete Besucher-Zentrum.
„Sorbus torminalis“ steht in großen Lettern auf der Fassade des Hauses. Die Elsbeere ist eine Wildfrucht, die schon von den alten Römern hochgeschätzt wurde, erklärte er uns. Angeblich soll die Bezeichnung „Elsbeere“ auf Martin Luther zurückgehen, aber mittlerweile gibt es weit über hundert Namen für diese Frucht, u. a. Ruhrbirne, weil sie wegen ihrer Gerbstoffe als Arznei für Verdauungsstörungen genutzt wurde.
Der Prinz erklärte uns, dass seine Vorfahren schon seit Maria Theresias Zeiten das Schnaps-Brennrecht innehätten. Er kredenzte uns jedoch Alkoholfreies, einen wunderbaren aus Elsbeerblüten gewonnenen Saft.
Die Möbel im Besucher-Zentrum sind aus Elsbeerholz gefertigt. Ich spürte sofort, da war ein Künstler am Werk, dem an der naturbelassenen Verarbeitung gelegen ist. Tische, Sessel, Garderobepaneele, größtenteils in ihrer urwüchsigen Form belassen. Krumme und geschwungene Kanten, zum Teil mit Rinde. Die Holzmaserung, ganz fein. Die polierten Oberflächen luden geradezu ein, mit der Hand darüberzustreichen. Das Holz der Elsbeere, das zu Recht Seidenholz heißt, macht seinem Namen alle Ehre.
Die Elsbeere, erfuhren wir, wird nicht vom Baum geschüttelt, sondern händisch gepflückt. Die zeitaufwändige Ernte schlägt sich im Preis der Produkte nieder. Schnaps, Likör, Konfekt. Ich kaufte zwei Gläser getrocknete Beeren fürs Müsli.
Wir setzten den 13 Kilometer langen Rundwanderweg fort. Neben vereinzelt stehenden Elsbeerbäumen fanden wir ihre besten Freunde, die Dirndln. Unten den Dirndln waren Netze gespannt, voll mit dunkelroten Früchten.
Bei den Dirndln ist es anders. Sie dürfen nicht gepflückt werden. Man muss warten, bis sie fallen. Wenn sie reif sind.
Da ist was dran.
© Sonja M. Winkler 2020-09-09