Komponistenviertel

Wolfgang Bremer

by Wolfgang Bremer

Story
Hamburg 2022

Was soll das sein, das Komponistenviertel? Ja, Beethoven, Bach, Mozart und all die anderen. Alle haben dort eine eigene Straße. Bebauung aus zig Jahrzehnten, alles neben- und durcheinander. Auch ein paar große, neue Büroareale sind dort entstanden. Aber das meiste ist aus der Jahrhundertwende vom neunzehnten auf das zwanzigste Jahrhundert. Und aus den Fünfziger-Jahren. Im Bebauungsplan ist das alles bestimmt als Gewerbemischgebiet oder wie immer das heißen mag ausgewiesen. Das sind dort fast alles nur kleine Straßen, alles voll geparkt. An den Ecken kleine Cafés und sogar eine unüberriechbare Rauchereckkneipe, original aus den Sechzigern. Und die alte Aufreihung der Läden: Schneider, Reinigung, Friseur, Reisebüro, Bäcker, Kiosk, Briefkasten, Hundeanleinringe. Die Apotheke, der REWE und Budni liegen beim Döner und den kleinen Boutiquen und Handwerksläden. Auch eine Heißmangel und ein Schuster sind da. Und die Restaurants nicht zu vergessen, vor allem die Italiener. Menschen, die sich morgens auf dem Weg zum Job einen Kaffee oder eine Tüte Brötchen holen. Freitags der Trupp Müllmänner vorm Bäcker auf den Stühlen an den kleinen Tischen, ihr LKW am Straßenrand so geparkt, dass der Bus gerade so dran vorbeikommt. Überhaupt: Kleine Tischchen sind hier der Renner. Richtig sympathisch. Die Kinder kommen aus einer der Schulen oder werden von den Eltern aus einem Kindergarten abgeholt. Hinter dem großen Neubau liegt der Sportplatz, auf dem die Kids vom Toreschießen träumen und es ausprobieren. Daneben wird eine neue Kita gebaut. Das uralte Schwimmbad liegt gleich gegenüber. Überall ziehen sich Grünzüge durch die Gegend und stehen Parkbänke. Ohne die vielen Fahrräder kann man sich die Gegend hier gar nicht vorstellen. Beeindruckend sind die großen und kleinen Straßenbäume. Nur vor den Neubauten ist das Grün noch etwas mickrig. Zwei Buslinien schlängeln sich mit ihren Elektrofahrzeugen durch die Straßen. An einer anderen Straße ein unscheinbares Garagentor, das, wenn es sich öffnet, für manche Männer eine Traumwelt offenbart, eine kleine, alte Halle voller Harleys. Gleich neben dem Abbruchareal für den nächsten Neubau. In jeden Hinterhof lohnt es sich einmal zu schauen. In einem findet sich eine alte Tischlerwerkstatt, bei der es den Anschein hat, dass gleich der Tischler mit einem Originaleinbauschrank für eine topaktuelle Wohnung aus dem Jahr 1973 herauskommt. Selbst der kleine, alte Transporter auf dem Parkplatz passt. Da huscht ein Mann plötzlich nach rechts in einen Torbogen eines leicht heruntergekommenen Gebäudes aus dem Ende der Sechziger-Jahre hinein, wo er doch eben noch rasch geradeaus die Straße entlang eilte. Massage. Open steht in tiefroter Schrift in den Fenstern. In diesen Eingang gehen nur Männer. Zum hippen Viertel am Mühlenkamp ist es nicht weit, aber diese andere Welt ist durch eine laute vierspurige Straße gut abgetrennt. Von dem riesigen, endlosen Einkaufszentrum sieht man ganz hinten nur die Rückseite. Und das reicht auch, dort geht man nur hinein, wenn es nicht mehr anders geht. Es steht für die andere, für die hektische Welt. Es fehlt natürlich auch einiges, definitiv. Ein Buchladen, ein Baumarkt, ein Elektronikhändler. Und zum Secondhand-Vinylplattenladen muss man aus dieser Welt herausgehen. Aber nur mal eben um die Ecke zur Mundsburg. Und das ist ja nicht so weit.

© Wolfgang Bremer 2024-03-05

Genres
Novels & Stories
Moods
Informativ, Reflektierend
Hashtags