Kragen geplatzt

Wolfgang Schinwald

by Wolfgang Schinwald

Story

Heute ist einer der heißesten Sommertage dieses Jahres. In der Getreidegasse schieben sich die Touristen aneinander vorbei. Mittendrin die weltbekannte Marionettenfrau, die ihre lustigen Gesellen auf dem Asphalt tanzen lässt. Die Frau ist so etwas wie ein Vorbild für mich. Wann immer ich ihr sporadisch über den Weg laufe, und das bereits seit mehr als 30 Jahren, macht sie auf mich den Eindruck, dass sie gut aufgelegt ist. Ihre Freundlichkeit ist nicht gespielt, und ich bin sicher, dass sie mit ihrer Arbeit zufrieden ist. In guten wie in schlechten Zeiten habe ich mir von ihr die gute Laune und die Zufriedenheit abgeschaut. Nur einmal nicht, als mir der Kragen geplatzt ist. Aber das war kein so heißer Tag wie heute, sondern einer der kältesten.

Genauso wie damals ist heute mein Ziel das Café Mozart. Heute gehe ich beschwingt in netter Begleitung, damals mürrisch allein. Eingepackt in einen alten Anorak, dessen Reißverschluss ich bis zum obersten Ende zugezogen hatte, weil der eisige Wind meinem Hals zusetzte. Heute nehme ich jeweils zwei Stufen in den ersten Stock. Damals kroch ich niedergeschlagen hoch und konnte in der Kälteschleuse kaum mehr atmen. Ich ließ mich am selben Platz nieder wie heute. Obwohl das ganze Kaffeehaus gesteckt voll war, wollte der Kellner sofort meine Bestellung aufnehmen. Ich war diese rasche Bedienung nicht gewohnt, weil ich beruflich in Computerläden zu tun hatte, wo man sich damals die Verkäufer regelrecht einfangen musste. Die Bestellung war mühsam, weil mir der Reißverschluss beim Sitzen den Kehlkopf zuschnürte. Der Gast neben mir, der aussah, als wolle er an mir dringend vorbei, beäugte mich argwöhnisch. Ich zog unauffällig am Reißverschluss meines Anoraks. „Ja, eine Mehlspeise nehme ich auch“, krächzte ich und riss fast panisch am zweiten Schieber, mit dem ich die Jacke von unten her aufmachen konnte. Jetzt steckten beide Schieber oben fest und drückten doppelt auf den Kehlkopf. Der Kellner war schon mit der Bestellung da. Ich schwitzte, dass mehr Dampf von mir aufstieg als vom Kaffee. Der Mann neben mir war kreidebleich. Ich vermute, dass es ihm nicht gut ging. Ich marschierte zügig zum WC. Lebhafte Mozart Musik schallte aus dem Lautsprecher. Als ich vor dem Spiegel meinen Reißverschluss öffnen wollte, sah ich meinen Sitznachbarn hinter mir vorbeihuschen. Am Klo konnte ich ihn dann hören. Ein Signal für mich, mit dem Reißverschluss endlich kurzen Prozess zu machen. Zornig packte ich den Anorak mit beiden Händen am Revers und riss die Jacke mit aller Kraft auseinander. Wumm! Beide Schieber flogen durch die Luft und knallten lautstark an die Spiegel, an die Emailteile und auf den Fliesenboden. Es war, als hätte ich von meinem Sitznachbarn einen Schrei des Schreckens vernommen. Dann war es still. Ich war erleichtert. Ich schnappte mir meine Reißverschlussteile, konsumierte meine Süßwaren und dampfte ab. Als ich die Marionettenfrau traf, tauschten wir ein entspanntes Grinsen aus.

© Wolfgang Schinwald 2020-09-16

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