Kreis-Lauf im “Zwara”

Lorenz Graf

by Lorenz Graf

Story

Entspannt lag ich auf dem Bett und las in einem Fachbuch. Drei Stockbetten gab es im Raum für uns sechs „Bewohner.” Ich war erst seit dem Abend des Vortages hier eingetroffen. Von den anderen fünf Männern wusste ich daher noch wenig.

Jetzt nach dem Frühstück genoss ich die Zeit mit dem Lesen wissenschaftlicher Literatur als Vorbereitung für eine Prüfung. Plötzlich standen die Männer um den Tisch in der Mitte des Raumes herum, erst stillschweigend und fast reglos. Und dann gingen sie los. Wie auf Kommando gingen sie um den Tisch herum, Runde um Runde, mal schneller, mal langsamer, aber immer hintereinander im Kreis. Ich schaute ihnen erstaunt zu.

„Komm, Kleiner, lauf auch mit“, riefen sie mir zu. „Ich muss lesen und lernen und die Zeit dafür nützen“, konterte ich. „Wie du meinst. Aber wetten, dass du ab morgen freiwillig mitlaufen wirst“, lachten sie.

Dieses Lauf-Schauspiel wiederholte sich mehrmals am Tag. Ich fand es damals kindisch. Laufen oder gar Nordic Walking waren ja noch gänzlich unüblich, beziehungsweise unbekannt. Einfach kindisch, fand ich, wie Erwachsenen immer im Kreis um einen Tisch herumliefen und dabei kaum was sprachen.

Wo war ich da nur hineingeraten? Erraten?

Ich war für einige Tage in diesem Haus, nicht freiwillig, sondern auf richterlichen Beschluss in Haft. Drei Haftanstalten gab es in Wien. Das „Zwara” (Zweier) war die Haftanstalt am Hernalser Gürtel. Das Landesgericht an der Zweierlinie hieß damals das „Ansa” (Einser) und die Rossauerkaserne war die „Liesl”.

Ich war zu einigen Tagen Haft ins „Zwara” verdonnert worden. Mein „Verbrechen“ bestand darin, dass unser VW-Käfer aus Altersschwäche den Geist aufgegeben hatte und ohne Nummerntafel auf die Abholung durch einen Bastler wartete. Das verzögerte sich und dauerte länger als geplant. Das gefiel den Beamtenlakaien im Rathaus gar nicht. Ein Auto ohne Kennzeichen auf der Straße abstellen ist strafbar. Die Strafe war ungewöhnlich hoch und für unser Budget damals unerschwinglich. Der Ausweg war eine Haftstrafe von einigen Tagen, die man als Student ohne fixes Einkommen absitzen konnte, ohne juristische Folgen.

“Sie verdienen in wenigen Tagen so viel wie ich in einem halben Monat“, tröstete mich der freundliche Herr Inspektor, während er mir Gürtel, Schuhbänder und Feuerzeug abnahm. Die Zigaretten und die Bücher durfte ich in die Zelle mitnehmen.

So saß ich also in einer Gemeinschaftszelle im Gefängnis und beobachtete belustigt das „Im-Kreis-Laufen“ der Mithäftlinge. „Wenn du länger hier wärst, würdest du das auch tun, glaube uns. Ohne dieses Gehen wirst du sonst verrückt werden.“ Ich erfuhr, dass sie Monate lang hier eingesperrt sind und verstand, dass einem nach Tagen und Wochen die Decke auf den Kopf fallen würde, man wird „verrückt“, weggerückt aus dem gewohnten Leben und dann depressiv oder aggressiv.

Schon am folgenden Tag drehte ich mit ihnen die Runden um den Tisch. Ich spürte den unwiderstehlichen Drang dazu.

© Lorenz Graf 2021-04-25