Kurzhaarschnitt

Doris Neidl

by Doris Neidl

Story

Heutzutage muss alles Arbeit sein. Man muss Trauerarbeit leisten, Beziehungsarbeit, Beziehungsaufarbeitung, man muss an sich selbst oder an seiner Bikinifigur arbeiten. Man kommt kaum mehr zum Arbeiten bei so viel Arbeit.

Ich liebe meine Arbeit, ich liebe es, in meinem Atelier zu sitzen und zu arbeiten. Obwohl mich ja viele fragen, womit ich mein Geld verdiene. KĂĽnstlerin zu sein, scheint irgendwie nicht als Arbeit zu gelten. Manchmal wird mir das zu viel und ich sage dann einfach, ich sei Friseurin. Das kommt immer gut an.

Ehrlich gesagt, ich will auch nicht an meiner Trauer arbeiten. Ich will trauern, ich will weinen, ich will wĂĽtend sein, ich will Gott, Allah oder das Universum hassen, weil ich einen geliebten Menschen verloren habe. Ich will einfach traurig sein und das vielleicht, bis ich selbst sterbe.

Außerdem will ich keine Beziehungsarbeit leisten. Ich will lieben, streiten, mich versöhnen und Versöhnungssex haben, der ja besonders spannend ist. Vielleicht streite ich deswegen so gerne? Oder Break-up Sex. Das ist überhaupt der beste Sex, weil dann eh schon alles egal ist. Bezüglich Beziehungsaufarbeitung bin ich auch skeptisch. Es heißt ja, dass das Darüberhinwegkommen, die Hälfte der Zeit der Beziehung dauert. Bei mir ist es irgendwie anderes. Ich habe eine dreimonatige Beziehung und ich leide zehn Jahre.

Es kann auch passieren, dass man nicht genug an sich gearbeitet hat. Man hat Dinge hinuntergeschluckt und nicht aufgearbeitet. Und was hat man davon? Eine Krankheit. Dann muss man laut Louise Hay hart an sich arbeiten.

Am schlimmsten sind aber die, die keine Arbeit haben und den wirklich Fleißigen das Geld wegnehmen, die Sozialschmarotzer. Die bekommen so viel Geld wie die, die ganz wenig verdienen und das ist eben ungerecht, sagen die einen. Man muss sich alles erarbeiten. Wer das nicht schafft, ist ein armer Schlucker und selber schuld. Oder man interessiert sich eben für die falschen Dinge und kennt niemanden, der sich auch dafür interessiert. Ich finde es schon in Ordnung, dass die einen mehr verdienen und die anderen weniger. Trotzdem bin ich, was Bezahlung betrifft, eher der kommunistische Typ. Es ist nicht wirklich gerecht, dass ein Manager so viel mehr verdient als eine Friseurin. Okay, Verantwortung und so. Aber ich finde, eine Friseurin hat auch ganz schön viel Verantwortung, wenn ich bedenke, wie man manchmal danach aussieht, mit den geföhnten Helmifrisuren.

Einmal war ich beim Friseur und ich wollte mir nur die Spitzen schneiden lassen. Danach hatte ich einen Kurzhaarschnitt. Als ich die Friseurin fragte, warum sie das gemacht habe, meinte sie, dass sie es nicht wisse und dass es ihr leidtue. Als mich meine Freundin fragte, warum ich nichts sagte, als ich gesehen hätte, dass sie viel mehr schneidet, sagte ich auch, dass ich es nicht wisse und es tat mir auch leid. Trotzdem, in diesem Fall, da muss ich ganz ehrlich sein, fand ich es ganz in Ordnung, dass die Friseurin weniger bekam als der Manager.

© Doris Neidl 2022-08-01