Late Bloomer

“Mh”, brummte Nora frustriert, während sie mit angezogenen Beinen auf dem Bett saß und auf ihrem Handy immer wieder nach links wischte. Heute hatte die Dating-App für Frauen nicht sonderlich viel zu bieten.
“Zu jung – zu alt – zu maskulin …”, ging sie die Profile durch, als wäre sie in der Position, zu urteilen. In Wahrheit hatte sie bloß Angst davor, eine Frau anzuschreiben und sich als blutige Anfängerin zu outen. Es war eine Hürde, mit dreißig Jahren in einen Pool erfahrener Lesben zu steigen, und die einzige Frau, mit der Nora bisher einen Match hatte, antwortete nicht.
Naomi – 33 Jahre alt, Nichtraucherin und kunstbegeistert. Ihr Bild gab nicht viel preis, es waren lediglich ein paar blonde Locken und ein weiches Lächeln zu sehen, aber ihr Profil wirkte freundlich, intelligent und ehrlich.
“Pling!” Eine neue Nachricht war hereingekommen. Hektisch wischte Nora auf dem Bildschirm hin und her und öffnete sie:

Naomi: Hi, tut mir leid, dass ich mich so spät melde. Ich wurde wohl etwas nervös, ich bin neu hier.
Nora: Hey! Das kann ich total verstehen, mach dir keinen Stress. :)
Ein netter Chat entstand und schon bald schrieb Nora von ihrem ersten Kuss mit einer Frau und wie sie in diesen paar Sekunden mehr gefühlt hatte, als in zwölf Jahren Männer-Dating. Sie war neugierig, was Naomi zu berichten hatte.
Nora: Hast du denn schon irgendwelche Erfahrungen?
Naomi: Nein, noch gar keine. Aber da ist diese Frau, ich begegne ihr jeden Tag auf der Arbeit. Ich glaube, sie nimmt mich gar nicht wahr. Ich möchte sie ansprechen, aber ich traue mich nicht.
Ernüchtert ließ Nora die Luft aus ihrer Nase weichen. Naomi schwärmte also bereits von einer Anderen. Trotzdem entschied sie sich, zu helfen.
Nora: Was soll schon passieren? Sie wird sicher nicht abgeneigt sein, wenn du sagst ‘Hey, ich sehe dich hier jeden Tag und finde es komisch, nichts zu sagen – ich bin Naomi.’
Naomi: Meinst du?
Nora: Ja, ich bin mir sicher. Go, Girl! ;)
Naomi: Alles klar, ich werde es versuchen. Vielen Dank, Nora. :)
Mit bedauerndem Lächeln schloss Nora die App und vergrub sich unter ihrer Bettdecke.
“Ich werde einsam sterben”, murmelte sie resignierend.

Am nächsten Morgen rollte sie sich brummelnd aus dem Bett, führte eine Katzenwäsche durch und kämpfte sich in ihre Arbeitskleidung. Bevor sie den Weg zur Werkstatt anstrebte, holte sie sich wie immer ihren Kaffee von der Bäckerei am Ende der Straße.
“Guten Morgen!”, warf sie in den kleinen Laden und steuerte direkt den Kaffeeautomaten an. Hinter der Theke stand wie jeden Morgen die kleine Verkäuferin mit Haarnetz und strahlte Nora entgegen. Sie war bildhübsch, ihr Lächeln machte Nora jedes Mal etwas nervös, also schaute sie schnell weg und zog konzentriert ihren Kaffee.
“Hey”, sagte die Verkäuferin zögerlich – Nora fiel beinahe der heiße Pappbecher aus der Hand. “Ich sehe dich hier jeden Tag und finde es komisch, nichts zu sagen – ich bin Naomi.”