by Conrad Amber
Darf ich den Baum fotografieren? “Das ist nicht so einfach” war die Antwort … FĂĽr mein Buch “Baumwelten”, das die ältesten Bäume Europas vorstellen sollte, bin ich viel gereist und gewandert. Langwierige Recherchen, endlose Fragen und Gespräche fĂĽhrten mich zu versteckten, uralten Lebewesen, deren Existenz vor Ort oft kaum bekannt war. Ein Vorhaben, das mich viele Jahre in so manche Regionen Mitteleuropas fĂĽhrte. Damit waren die kleinen Abenteuer und unerwarteten Erlebnisse vorprogrammiert. Wie eben dieses:
Die Suche nach dem ältesten Bergahorn der Alpen führte mich in die Schweiz. In ein abgelegenes Bergdorf mit dem Namen Urigen im Kanton Uri. Urigen in Uri, das fängt gut an, meinte ich.
Dort angekommen fragte ich die Menschen im Dorf, wo denn dieser sagenhafte Bergahorn zu finden sei. Wie so oft kannte niemand den ältesten Baum der Region. Eine Bäuerin meinte, das könnte der Baum vom “Jösi” sein. Er hat dort oben ĂĽber dem Dorf ein altes Bauernhaus und hinterm Stall wĂĽrde ein dicker Baum stehen.
Ich machte mich auf den Weg. Mit Kamera, AusrĂĽstungsrucksack, Stativ schaut das “offiziell” aus und bringt manchmal Eintrittsvorteile. Hinauf zum Haus von Jösi. Plötzlich stand ein bärtiger, grauhaariger Mann vor mir. Kleingewachsen, breitbeinig mit verschränkten Armen und stechendem Blick. Wortlos. Ich denke mir: Ein uriger Uriger!
Das ist die Art, wie mich manche Bewohner der Berge begrĂĽĂźen. Es bedeutet etwa: schön Dich zu sehen, was kann ich Gutes fĂĽr Dich tun. Seine Worte: “was wötscht?” was willst Du? bewiesen, dass ich richtig war! Ich erzählte ihm darauf hin von mir, meinem Anliegen, “seinen” Baum fotografieren und vermessen zu wollen. Damit wĂĽrde er sogar in mein Buch aufgenommen. Seine Antwort “säb isch nit so ifach”etwa: Wir mĂĽssen reden!
Nach kurzem, knackigen Berggespräch und 20 Franken Eintritt durfte ich seinen Baum sehen und fotografieren. Ein Erlebnis! Momente der Freude und wortloser Bewunderung.
Ich mag geschäftstĂĽchtige Leute wie den Jösi. Er weiĂź, er hat einen Schatz, der wertvoll ist. Als ihm das ein Baumkenner vor einigen Jahren erklärte, änderte sich seine Haltung zum alten “Stumpen”. Er hatte seine öligen, landwirtschaftlichen Geräte aus dem hohlen Baumstamm entfernt, lies den Baum von einem sensiblen Baumpfleger erkunden, die Baumkrone wurde verankert und Totholzäste entfernt. Der Platz vor dem Baum wird regelmäßig gemäht und hin und wieder kommen eben Besucher wie ich. Er ist stolz auf seinen Baum und wird ihn schĂĽtzen. Sein Leben lang.
Dieser “urige” Bergahorn ist rund 700jährig mit einer altersentsprechenden, kurzen Krone und einem mächtigen, hohlen Stamm von 860 cm Umfang. Er lebt auf 1400 Meter Seehöhe und dĂĽrfte tatsächlich einer der ältesten seiner Art in Europa sein. Vielleicht lebt er noch einige Jahrzehnte. Ein lebendes Wesen aus der Zeit des Mittelalters.
© Conrad Amber 2020-05-28