Licht und Schatten

MiraCeres

by MiraCeres

Story
Beiersdorf 2002

Da ist sie also, die alte Fabrik, die wir schon so oft aus der Ferne beobachtet hatten. Ich musste schlucken. Wie oft hatten wir uns schon ausgemalt, was man dort erleben konnte. Doch den Mut hatten wir bisher noch nicht aufbringen können. Heute sollte es so weit sein. Als Unterstützung begleitete uns der Rauhaardackel meiner Freundin. Er würde schon bellen, wenn jemand kam. Wir hatten in der Nähe der Fabrik zwar immer nur ein paar Spaziergänger gesehen, aber man konnte nie wissen.


Dass der Zaun rund um das Gelände keine Löcher aufwies, durch die man schlüpfen konnte, hatten wir bereits bei einem früheren Spaziergang ausgekundschaftet, also gingen wir direkt zum Tor. An den Säulen direkt daneben konnte man sich gut hochziehen und von dort über das Tor klettern. Für den Hund war es einfacher. Er passte noch ohne große Mühe durch die Stäbe, denn niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn im unteren Bereich mit Maschendraht zu verengen. Was unser Glück war – so ein Dackel kann auch verdammt schwer sein.

Und dann sind wir drin. Der Weg ist mit Unkraut überwuchert. Leise fluchend machen wir uns auf den Weg um das Gebäude herum zum Eingang. Die Fenster sind leer und sehen aus wie schwarze Augen, die jeden unserer Schritte beobachten. Auch die Tür hängt nur noch in den Angeln, was bei einer Stahltür beängstigend wirkt.

„Sollen wir wirklich?“, sagt meine Freundin kaum hörbar neben mir. Ich kann nur nicken. Wir sind so weit gekommen, dann ziehen wir das jetzt auch durch. Doch bevor wir auch nur einen weiteren Schritt machen können, raschelt es hinter uns. Erschrocken drehen wir uns um und ich kann gerade noch so den quiekenden Hund auffangen. Wer hätte gedacht, dass er so hoch springen kann. Ich habe genauso viel Angst wie das Tier und freue mich insgeheim mich an ihm festhalten zu können. Fast gleichzeitig stoßen meine Freundin und ich die angehaltene Luft aus. „Komm“, sage ich und mache die ersten Schritte. Sie schließt sich mir an. Zusammen treten wir durch die Tür und sehen – Nichts. Das Gebäude ist nur noch ein Exoskelett, alles, was einmal darin war, existiert nicht mehr. Es hatte 2 Kellergeschosse – auf deren Grund sehen wir ein paar Rohre in der Dunkelheit verschwinden. Das Licht, das durch die Löcher im Dach und die Fenster fällt, schafft es nicht nach unten. Es ist deutlich unspektakulärer und nicht annähernd so gruselig, wie wir es uns jahrelang in unserer Fantasie ausgemalt haben. Erleichtert lachen wir uns an, bevor wir uns auf den Rückweg machen. Stolz, dass wir dieses Abenteuer zusammen überstanden haben, von dem wir uns immer noch erzählen.


© MiraCeres 2024-07-08

Genres
Suspense & Horror
Moods
Abenteuerlich, Dunkel, Mysteriös
Hashtags