Liebes Tagebuch (oder: Ehrlichkeit und Autor)

Janina Wiese

by Janina Wiese

Story
Berlin

Liebes Tagebuch, (nein, das klingt falsch -) Tagebuch, (Ist das zu unpersönlich oder unhöflich?) Liebe leere Seite, (Vielleicht sollte ich ‘liebe/s’ grundsĂ€tzlich weglassen?) (Das dichtet so ein enges VerhĂ€ltnis an.) (Wahrscheinlich, damit es einfacher ist, sich zu öffnen, oder?) (So im fake it ‘till you make-Stil.) (Einfach mal so tun, als wĂ€ren wir enge Freude, Tagebuch.) (FĂŒhlt sich aber falsch an.) (Ich kenne dich ja nicht. Und ich will auch nicht so tun, als ob.) (Ich will hier ja ehrlich sein können. Da sollten wir nicht gleich mit dem faken anfangen.)

Leere Seite, 

Ich schreibe dir, um meine Gedanken so ehrlich und authentisch wie möglich zu Papier zu bringen. Was grundsĂ€tzlich schwer sein wird, weil, sobald es aufs Papier soll, fĂ€llt es mir schwer, ehrlich zu sein. Weil ehrlich ist manchmal nicht schön. Und beim Schreiben möchte ich es am liebsten ganz besonders schön haben. Schöne Wörter, schöne Bilder im Kopf und ein schöner Leserhythmus. Leider (und das tut mir in meinem Schreiberherzen sehr weh) sind die ehrlichen Wörter manchmal die hĂ€sslichen. Weil weinen klingt schöner als flennen und heulen, aber sowohl flennen als auch heulen kommen eindeutig dem nĂ€her, was ich tue. Das Dilemma eines Schreiberlings: Schönheit oder AuthentizitĂ€t? –

Leere Seite, 

Ich fange nochmal von vorne an, weil – Ich habe meine wohlwollende Intention bereits gebrochen und es tut mir echt leid. Ich habe (sorry nochmal!) schon im ersten Eintrag ein paar Wörter verwendet, weil sie mir sehr viel besser gefallen, obwohl sie weniger ehrlich und authentisch fĂŒr mich sind. Zum Beispiel, Leserhythmus. Ich wollte Lesefluss schreiben, habe mich aber umentschieden, weil ich die musikalische Assoziation mit dem Begriff so toll finde. Außerdem, Schreiberherzen. Mein erster Impuls war Autorenherz, aber das kam mir dann irgendwie so vor, als wĂŒrde ich mich auf so eine professionelle Ebene heben, obwohl ich ja ein Amateur bin, der (gerne) Schriftsteller sein möchte, deshalb habe ich das nochmal geĂ€ndert. (Ich weiß, ich weiß. KopfschĂŒtteln.) Beim zweiten Anlauf ist das schriftliche Ehrlich sein einfacher fĂŒr mich, das war schon immer so, weil Aussagen verbessern oder korrigieren kann ich besser, als von vornherein ehrlich zu sein. Mit vielen Worten um den heißen Brei herum reden, um eine Illusion der Wahrheit festzuhalten, anstatt mit weniger Inhalt und den hĂ€sslicheren Worten der RealitĂ€t nĂ€herzukommen. Ist das noch Tagebuchschreiben oder ist das schon Fiktion?


© Janina Wiese 2023-05-19

Genres
Novels & Stories, Biographies
Moods
Komisch, Informativ, Mysteriös, Reflektierend, Traurig
Hashtags