Liebesgrüße aus dem Nirgendwo

Tristan Blau

by Tristan Blau

Story

Vincent saß im Schneidersitz auf seinem Bett und hielt den gefalteten Brief mit beiden Händen fest. Bevor er sich traute, den Brief eingehend zu studieren, machte er sich Gedanken über den Ursprung des Briefes. Vincent war immer ein Einzelgänger gewesen. Dementsprechend hatte er bisher noch nie eine feste Beziehung gehabt und war nur mit wenigen Menschen befreundet. Sein Onlinestudium bot daneben kaum Möglichkeiten, neue Freunde kennenzulernen. Wer schrieb ihm also diesen Brief? Seine Neugier war nicht mehr zu unterdrücken, sodass er beschloss, das Papier aufzuschlagen:

“Ich bin ein Kind von Traurigkeit, das Worte aneinanderreiht.

Du bist ein göttergleiches Wesen; so weise, fleißig und belesen.

Schreib mir ein Buch deiner Gedanken, worum sich Efeublätter ranken.

Ich will es still und heimlich lesen, du göttergleiches Wunderwesen.

In deine Augen will ich tauchen und deine Worte will ich brauchen,

Um das zu sagen, was ich meine, wenn ich allein im Stillen weine.

Du bist mein Alles, bist mein Sehnen. Will mich an deine Schulter lehnen

Und spüren, wie dein Herz mir schlägt und mich auf meiner Reise trägt.

Dein heimlicher Verehrer, der Unbekannte”

Vincent zuckte zusammen, als er die Unterschrift las. Dass er homosexuell war, hatte er bisher keinem Menschen erzählt. Er hatte zwar bereits sexuelle Kontakte zu Männern, die er über Dating-Plattformen kennengelernt hatte, aber zu mehr als einem One-Night-Stand war es bisher nie gekommen. Da er bei seinen Eltern wohnte, fanden diese Treffen auch nie bei ihm zuhause statt. Dieser Umstand verunsicherte ihn immens. ‚Wer ist das?‘, dachte er panisch. ‚Vielleicht hat mich jemand auf dem Heimweg verfolgt. Aber warum schreibt er nicht, wer er ist?‘ Vincent stand auf und ging aufgeregt und grübelnd in seinem Zimmer auf und ab. Nach einer Weile beruhigte er sich und setzte sich wieder aufs Bett, um nochmal das Gedicht zu lesen.

Nachdem er die ersten vier Verse gelesen hatte, dachte er: ‚Es ist echt schön geschrieben… Und diese Zeilen sind nur für mich?‘ Er fühlte sich langsam ein wenig geschmeichelt. ‚Die Handschrift ist überhaupt nicht krakelig oder so. Da hat sich jemand richtig viel Mühe gegeben.‘ Er merkte, wie sein Herz mit jedem Vers höher schlug und ihm eine sanfte Röte in die Wangen fuhr. ‚…um das zu sagen, was ich meine, wenn ich allein im Stillen weine.‘ Er bekam ein bisschen Mitleid gegenüber dem unbekannten und offensichtlich unglücklich verliebten Mann. Mit halb geschlossenen Augen badete er in der liebevollen Aufmerksamkeit seines heimlichen Verehrers, die sich in den letzten Versen des Gedichts niederschlug. „Vincent!“, rief seine Mutter die Treppe hoch. „Essen ist fertig!“ Er schreckte aus seiner rosaroten Wolke auf. Der Ruf seiner Mutter erschuf eine kleine Distanz zwischen ihm und dem Gedicht, die ihm zu denken gab: ‚Ein bisschen gruselig ist es trotzdem…‘

© Tristan Blau 2022-04-12

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