Luisa, entwürdigt

Patrick Müller

by Patrick Müller

Story

Wie ein Stück Fleisch fühlte Luisa sich. Warum das? Weil sie vergangene Nacht berührt worden war, im Schritt, zweimal hintereinander, ohne Einwilligung, von zwei verschiedenen Männern, die einem Menschenschlag angehörten, den Luisa für gewöhnlich in Schutz nahm: Menschen mit Migrationshintergrund aus dem arabischsprachigen Raum. Woher sie das wusste? Weil sich die beiden Männer, nachdem sie Luisa mitten auf der Straße im Vorbeigehen in den Schritt gegriffen hatten, auf Arabisch über sie lustig gemacht hatten – denn auch wenn sie kein Wort verstanden hatte, unterschied sie sehr wohl, wie sich diese Sprache anhörte und auch, wie es sich anhörte, wenn zwei Männer sich über eine Frau lustig machten, denn das geschah sprach- und kulturübergreifend auf sehr ähnliche Art und Weise.

Allein war Luisa gewesen vergangene Nacht, allein auf dem Heimweg. Rechtfertigte ihr Alleinsein das Verhalten der beiden Männer vielleicht?, fragte sie sich. Wenn diese Männer nämlich, dachte sie, in einem anderen Kulturraum mit anderen Normen und einem anders gearteten Wertesystem sozialisiert worden waren, so war es nur verständlich, dass sie vergangene Nacht davon ausgegangen waren, dass Luisa als junge Frau in nächtlichen Straßen allein nichts verloren habe. Traf sie im Hinblick auf das Geschehnis demnach also eine Mitschuld?, formulierte sie es klarer. Luisa sinnierte ernsthaft über dieses ihr sehr verzwickt erscheinende Thema, war immerhin M.A. in Europäischer Ethnologie und dachte immerzu über derlei Dinge nach; so etwa, ob es möglich sei, den in einem kapitalistischen System vorherrschenden ontologischen Horizont von Kosten-Nutzen-Kalkülen zu überschreiten, wie man korrekt mit Konzepten wie ›Rasse‹, ›Geschlecht‹ und ›soziale Klasse‹ umzugehen habe oder etwa, ob Erotik zwangsläufig übergriffig sei und wenn ja, ob sie das zu sein habe, um Erotik und nicht ebenfalls bloß ein Kosten-Nutzen-Kalkül dritten Grades zu sein.

Luisa hatte noch niemandem von dem grausamen Vorfall erzählt und sie war sich nicht sicher, ob sie dies überhaupt tun solle. Man würde bloß wieder über all die ›Ausländer‹ schimpfen und dabei danach trachten, sie, Luisa, davon zu überzeugen, dass sich ihre Naivität nun gerächt habe, dass sie stets ›die Falschen‹ in Schutz genommen habe. Die Eingeweihten würden bei den nächsten Wahlen bloß noch rechter wählen – und das wäre das Einzige, was sie mit ihrem Sich-Mitteilen erreicht hätte. Zur Polizei zu gehen, erschien ihr ebenso sinnlos; Beamte waren immerhin auch Wahlberechtigte. Außerdem würden die sie zuallererst nach dem Äußeren der Täter befragen und dann würde sie aufgrund der fehlenden Präzision ihrer Erinnerung auf Verallgemeinerungen zurückgreifen müssen, würde dadurch sogar selbst eine Gruppe diskriminieren. Nein, niemand sollte von diesem Vorfall erfahren, niemand sich auf ihn stürzen können. Ja, Luisa war stark und daher vergrub sie sich lieber im Bett, um um sich und die Täter zu weinen.

© Patrick Müller 2022-08-09

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