by Olaf Maly
Kaum das wir aus dem Bus gestiegen sind, eröffnet sich uns die gewaltige Stadt, hoch am Berg. Frei übersetzt bedeutet der Name ‚alter Berg‘ oder ‚alte Pyramiden‘. Ich bleibe bei Machu Picchu, des Eindrucks wegen, der dieser Name einem gibt. Wenn man das zum ersten Mal sieht, bekommt man umgehend ein Gefühl von Ewigkeit, Faszination und Überwältigung. Unfassbar, das jemand zu dieser Zeit so ein Werk erschaffen konnte.
Der Platz allein ist beeindruckend, aber die Vorstellung, dass Menschen das alles erbaut haben, ist mehr als das. Es grenzt an ein Wunder. Wir wissen bis heute nicht, wie sie die tonnenschweren Steine aufeinander geschichtet haben. Und wie sie sie bearbeitet haben, dass sie sich ohne Zwischenraum zusammenfügen. Und sich über Jahrhunderte nicht bewegten. Allein der Gedanke so eine Stadt aus dem Nichts entstehen zu lassen muss einem Respekt einflößen.
In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben Wissenschaftler hinter einer Wand Wertgegenstände vermutet und dort einen Teil abgetragen. Es fand sich nichts, also haben sie die Steine wieder in die Position gebracht, wie sie vorher waren. Das Ergebnis ihrer Arbeit kann man heute noch sehen, da sich die Quader in der Wand voneinander gelöst haben und nun droht einzufallen. Trotz der Technologie, die wir heute haben, waren uns die Inkas in diesem Bereich scheinbar weit überlegen.
Der spanische Konquistador Baltasar de Ocampo hatte Ende des 16. Jahrhunderts eine Bergfestung namens Pitcos mit sehr prächtigen und majestätischen Gebäuden besucht, die mit großem Geschick und Kunstfertigkeit errichtet worden waren, wobei alle Türstürze, sowohl die wichtigsten als auch die einfachsten, aus kunstvoll geschnitztem Marmor bestanden. Man nimmt an, dass es Machu Picchu war. Er war also der erste Europäer, der diese Anlage gesehen hat.
Wir wissen nicht, wer diese Leute waren. Die Inkas haben uns keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Erst mit den Spaniern fing man an, ihre Geschichte niederzuschreiben. Sehr schade. Es muss aber ein gutes Leben gewesen sein, zumindest für die herrschende Klasse. Sie hatten fließendes Wasser und Toiletten mit Wasserspülung. Dann, eines Tages waren sie weg. So wie sie gekommen waren, gingen sie wieder. Lautlos. Sie müssen alles mitgenommen haben, da man keine Wertgegenstände, Werkzeuge oder Waffen gefunden hat. Sie kamen nicht mehr zurück.
Dort oben vergeht kein Tag, an dem es nicht regnet. Auch als wir dort waren, war der höchste Punkt oft in dichten Wolken versteckt. Sie lösten sich immer wieder auf, gaben den blauen Himmel frei, nur um dann wieder alles zu verschlucken. Ein nicht endender Kreislauf. Wir sitzen auf einer der blank polierten Bänke, auf denen vielleicht einmal ein großer Herrscher gesessen hat. Denken wir jedenfalls. Um uns herum grasen Lamas. Wasser läuft in den kleinen Kanälen, die von einem Haus zum anderen führen. Leise plätschert es vor sich hin, wie seit über fünfhundert Jahren. Es ist Zeit zu gehen. Der Tag neigt sich dem Ende. Wir stehen auf und nehmen den letzten Bus. Die Serpentinen hinunter.
© Olaf Maly 2021-02-28