In Wien war der Alltag wieder da und mein Leben mit viel Arbeit ausgefüllt. Meine Tochter stellte mir ihren Freund Markus vor. Er war von einer Clique, wo sie sehr oft am Abend war, wenn sie ausging. Außer einem Freitagnachmittag. Das war Anfang November 1983. Ich war in der Küche und wollte meiner Tochter gerade sagen, dass ich noch schnell zum Arzt gehen musste, weil ich eine Injektion bekommen sollte. Da kam Angelika zu mir in die Küche, sah mich verlegen an und sagte: Was würdest du machen, wenn ich dir sage, dass mich dein Mann, mein Papa, sexuell missbraucht hat.
“Wumm”, ich schaute sie an, wie wenn ich sie das erste Mal in meinem Leben gesehen hätte. Für mich blieb die Welt stehen und ich hatte das Gefühl, dass sich der Boden unter mir öffnete und ich in ein ganz tiefes Loch falle. Irgendwie ging ich wie ferngesteuert zum Arzt. Aber ich dachte immer noch, dass sie einen Scherz machte. Als ich vom Arzt zurückkam, um sie nochmal zu fragen, war sie nicht mehr zu Hause. Sie ging öfters zu ihren Freunden. Sie war ja fast 16 Jahre alt und da hatte ich es als Mutter schwer, noch etwas vorzuschreiben. Mein Mann hatte Nachmittagsschicht, von 14 Uhr bis 22 Uhr. Ich sehe mich immer noch zitternd und weinend beim Fenster sitzen, um auf Leo zu warten. Er kam, wie so oft in letzter Zeit, ziemlich spät nach Hause. Es war kurz vor Mitternacht. Dann fragte ich gleich, ob das stimmt, was mir die Angelika Nachmittag gesagt hatte. Er meinte, ja, das stimmt, aber es war ihre Schuld, weil sie neugierig war und ihn verführt hatte. Ich fragte ihn, ob er sich dessen bewusst ist, dass das seine Tochter ist. Er meinte, da ich nie zu Hause war, verschaffte er sich anderswo Befriedigung. Jetzt war das Ganze sozusagen auch noch meine Schuld. Da sagte ich ihm: Entweder ziehst du aus, oder ich zeige dich an.
Worauf er meinte, dass er eh schon lange von mir weg wollte, weil ich nur noch meine Arbeit im Kopf hätte. Er dreht sich um, zog sich aus, legte sich ins Bett und schlief innerhalb kürzester Zeit ein. Ich saß noch stundenlang im Wohnzimmer, weinte und begriff nicht, was gerade passierte. Am nächsten Tag begann er, möglichst viele seiner Sachen zu packen. Er sprach kein Wort mehr mit mir. Am nächsten Tag, das war ein Montag, trug er seine Sachen ins Auto und war weg. Meine Tochter blieb bei mir. Redete aber auch nicht mehr mit mir. So gingen 22 Jahre Ehe zu Grunde. Ich lebte in dieser Zeit wie in einem Glashaus. Trotzdem kam es noch schlimmer. Ich wollte meiner lieben Freundin erzählen, was mir passiert ist. Aber sie sagte, dass der Leo zu ihr zieht, weil sie ihn schon seit langem so sehr liebt. Ich tue ihr zwar Leid, aber sie kann es nicht ändern.
Dazu muss ich sagen, dass ihr Mann schon vor einiger Zeit starb und ich sie tröstete, damit sie ihren großen Verlust gut überstand. Als Dank nahm sie sich dann meinen Mann. Meine Tochter schaute mich auch nicht mehr und redete fast nichts mehr mit mir, weil sie mir jetzt die Schuld gab, dass ihr geliebter Papa nicht mehr da war. Ich vermute, dass sie mir das Ereignis mit ihrem Vater deswegen erzählte, weil sie mitbekam, dass ihr Vater ein Verhältnis mit Erika hatte. Ich wollte trotzdem das Ganze erst einmal begreifen und klären. Aber er reichte die Scheidung ein und zwang mich sogar, in die Scheidung einzuwilligen. Sonst würde er wieder zu Hause einziehen. Deswegen hatten wir am 23. Dezember 1983 unseren Scheidungstermin.
Foto: Angelika in Wien 1983
© Franz Kellner 2025-06-14