Mein größtes Geheimnis

Anastasia Pusch

by Anastasia Pusch

Story

Als Kind habe ich ab und zu gelogen. Einerseits war ich glücklich zu Hause, andererseits wollte ich nicht, dass jemand mitbekommt, wie wir leben. Ich habe mich sehr dafür geschämt und oft nicht die Wahrheit gesagt. Wir wohnten in einem riesigen alten Wohnblock, der früher ein Studentenwohnheim war. Das Treppenhaus war offen und es gab riesige Fensterbänke, sicherlich über 50 cm breit, die Jugendliche als Sitzgelegenheit oder Tisch benutzten. Am Wochenende saß auf jeder Etage eine Gruppe. In einer armen Stadt gab es nicht nur wenige Bars und Clubs, sondern auch kein Geld, um hinzugehen. Also saßen “die Kinder” in unserem “Club”. Oft waren sie sehr aggressiv und haben betrunken Beleidigungen geschrien. Es gab selten Licht im Treppenhaus. Im Winter, wenn man nur ein paar Stunden Tageslicht hatte, war der Weg nach Hause ein richtiges Abenteuer.

Deshalb wollte ich nicht, dass jemand weiß, wo ich wohne. Schon unbeliebt, habe ich versucht, keinen Grund zu geben, mich noch mehr auslachen zu können. Ich habe gelogen, sonst hätten die anderen noch einen Grund mehr gehabt, mich zu mobben. Ob es gut ist oder nicht – ich habe immer erzählt, dass ich ein paar Häuser weiter wohne – im Haus meiner Cousine.

Relativ spät habe ich zwei Freundinnen von mir die Wahrheit erzählt. Es war ein sehr schwieriger Schritt für mich. Ich war schüchtern und unsicher. Ich hatte Angst, sie als Freundinnen zu verlieren. Doch faszinierenderweise hat es sie nicht interessiert, wo ich lebe. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben verstanden, wie leicht es sein kann, einfach ich selbst zu sein. Ein wahrer Vorsatz, der mich bis heute begleitet.

Ich habe mein Leben immer im Vergleich zu anderen als schlecht oder “nicht okay” betrachtet, während ich andere als “okay” angesehen habe, selbst wenn ihre Familien auch arm waren. Doch dann haben mir die Freundinnen gezeigt, dass auch ich “okay” bin. Unabhängig davon, wo ich wohne, wie ich aussehe oder wie ich spreche. Das war neu für mich. Ich habe mir vorgenommen, dass ich auch andere Menschen immer nur als “Okay” betrachten werde. Denn ich habe erkannt, wie wertvoll dieses Gefühl ist. Ich möchte, dass meine Freunde auch wissen – so wie sie sind, sind sie perfekt.

Ich sehe es als meine Schwäche an, wenn ich mir ab und zu erlaube, kritisch über meine Freunde zu urteilen. Wir sprechen hier natürlich über das Leben, nicht über kriminelle Taten. Ich glaube, dass diese Sichtweise nicht nur mir hilft, meinen Alltag erfolgreich zu bewältigen, sondern auch meinen Mitmenschen, was für mich eine sehr wichtige Sache ist. Ich bin okay. Und mein Gegenüber auch.


© Anastasia Pusch 2024-03-10

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