Meine Burg

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Story

In der Küche meiner Kindheit stand eine Eckbank mit einer längeren und einer schmalen Seite. Diese lag direkt neben dem Fenster und war gerade recht für eine Person. Man saß dort auf eine beinah exklusive Weise, überblickte den ganzen Raum und sah zu beiden Türen. Jeder, der bei uns zu Gast war, steuerte als Erstes darauf zu, wenn er gebeten wurde, Platz zu nehmen.

Von Beginn an, seit ich allein essen konnte und nicht mehr von meinem Vater gefüttert wurde (Mutter widmete sich den jüngeren Geschwistern), war das mein fester Sitz. Er war weniger mein Thron als vielmehr meine Burg beim Essen, Spielen und später bei den Hausaufgaben. Ich bewohnte ihn, be-saß ihn. Meine Eltern hatten die Stühle inne. Papa war ganz in meiner Nähe und für mich zuständig, etwa wenn ich ihn brauchte, um Fleisch kleinzuschneiden. Mama führte mir gegenüber den Vorsitz. Ich mochte mein Plätzchen sehr, fühlte mich dort vermutlich geerdet und sicher. Es gehörte zu mir. Wie beliebt, aber keineswegs sicher mein Teil der Bank war, erfuhr ich bald.

Wenn Besuch kam, musste ich jedes Mal meine Burg räumen und zu den Geschwistern auf die Längsseite ziehen. Warum nicht jemand anderer seinen Platz verließ oder beiseite rückte, weiß ich nicht. Jedes Mal war ich aufs Neue enttäuscht und empfand so etwas wie Entwurzelung. Protest war zwecklos, wir hatten zu gehorchen, Optionen gab es keine. Was die Mutter anordnete, musste getan werden. Und nur für einen Tag war es ja auch keine große Sache. Deshalb wehrte ich mich nicht lange dagegen.

Später wurde eines der Zimmer im Haus an einen Lehrling vermietet, der mit uns aß und im Winter in der warmen Küche für die Berufsschule lernen durfte. Meine Mutter half ihm auch gern, wenn der Lernstoff ihm Schwierigkeiten machte. Aber jetzt gehörte mein angestammter Sitz mir nur noch am Wochenende.

Jahre später durfte mein späterer Mann zur Stubate* kommen, da musste ich meine Burg auch für ihn freigeben. Und als wir nach der Hochzeit unsere eigene Eckbank besaßen, nahm er ganz selbstverständlich an deren Schmalseite Platz. Er setzte sich selbst zum Schlossherrn ein. Von da an legte ich keinen Wert mehr auf etwas Fixes. Es ging mir nur noch um das Hier und Jetzt.

Vor Jahrzehnten las ein Astrologe aus der Konstellation der Gestirne zur Stunde meiner Geburt, dass es in meinem Lebenslauf viele Wechsel in jeder möglichen Hinsicht bereits gegeben habe oder noch geben werde. Das hat sich bewahrheitet, denn mein Leben verlief wie eine Achterbahn. Es gab kaum Stabilität, weder was Orte, Arbeitsstellen, Einkommen, Besitztümer noch Partner betraf.

Ich frage mich aber, ob nicht der regelmäßige Verlust eines der ersten Fixpunkte in früher Kindheit dazu beigetragen hat, dass ich lieber wie eine Fahrende gelebt habe als jemand mit Wohneigentum und damit automatisch stabiler Sesshaftigkeit. Jetzt im Alter sieht es freilich anders aus.

*Stubate: wenn ein junger Mann seine Freundin zuhause besucht, unter den aufmerksamen Augen der Eltern

Bild: unsplash

© scritta 2023-01-05