Meine Nachbarn, die Turmfalken

Ilona Weinrich

by Ilona Weinrich

Story
Daheim und in der Luft 2023 – 2024

Ich bewundere Falken bei ihrem Rüttelflug, wie sie auch bei orkanartigen Böen auf einer Stelle minutenlang verharren, dem Sturm mit ihrem kleinen, feingliedrigen Körper trotzen. Das erfordert Beharrlichkeit, Kraft und Geschicklichkeit. Dieses Schauspiel der Turmfalken im Winterwind beobachte ich dieses Jahr zum ersten Mal, weil sie die vergangenen Winter stets in wärmere Regionen gezogen sind. Es freut und besorgt mich gleichzeitig. Zum einen, weil sie nun auch im öden Winter für Unterhaltung sorgen. Zum anderen, weil ein langer, strenger Winter ihren Hunger– oder Kältetod bedeuten könnte. Sie benötigen mehr als mein ausgestreutes Körnerfutter. Mäuse oder andere Kleintiere für sie zu besorgen wäre artgerecht, steht aber nicht in meiner Betriebsanleitung. Um sich von ihren täglichen Flug– und Jagdkünsten auszuruhen, lässt sich ein Falkenpaar im hoch oben gelegenen Vorsprung des Giebelfensters nieder. Mein Fenster ist fast vis a vis. Nach ihrer Landung am Dachfenster wird zuerst die Umgebung genauestens beäugt. Wenn alles für gut befunden worden ist, beginnen sie oft ausgiebig ihr Federkleid zu reinigen. Anschließend wird gerne ein kleines gemeinsames Nickerchen gehalten. Mit aufgeplusterten Federn kuscheln sie eng aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Das Weibchen ist etwas kleiner und schmiegt ihr Köpfchen auf die Schulter bzw. Schwingen ihres Partners, während beide allmählich in ihre Traumwelt schweben. Fast jeden Tag treffen sich unsere Augenpaare, wenn sie auf dem Fenstersims sitzen und ich auf meiner Couch. Ein intensiver langer Blickkontakt folgt. Wir kennen uns, sind uns vertraut. Ich kann mich frei am Fenster bewegen, sie fliegen nicht fort, greifen auch nicht an, wenn sie Junge im Nest haben. Ich hoffe, die beiden werden wie in jedem Jahr in meinem Haus ihre Familienphase leben. Bisher habe ich erst einmal in allen Jahren unserer Nachbarschaft erlebt, das zwei Jungvögel von drei bis vier Eiern unbeschadet groß wurden. Sobald die Küken flügge geworden sind, bleiben sie bis zum Herbst bei ihren Eltern. Das Treiben der Vogelfamilie auf umgebenden Dächern und Bäumen lässt sich von meinen oberen Stockwerken aus gut beobachten. Zuerst lernen die Jungen vom Nest aus auf die nächste Mauer oder den nächsten Baum zu fliegen. Als Nächstes werden höheren Nachbardächer angesteuert. So erweitert sich ihr Aktionsradius beständig. Gerne stören drei bis vier Rabenkrähen die Flugschule. Das Ziel der Rabenkrähen ist, den jungen ungeschickten Flieger einzukreisen, um ihn auf die Erde zu zwingen. Ist das vollbracht, gesellen sich viele im Sturzflug dazu, denn die Aussicht auf Beute steigt, wenn das junge Tier beispielsweise gemeinsam in eine Ecke getrieben wird, aus der es kein Entrinnen gibt. Inzwischen hat sich der ganze Krähenschwarm eingefunden, der jeden Versuch des Beutetieres nach oben in die Freiheit zu kommen, unterbindet. Falls ich Zeuge eines solchen Spektakels werde, hilft nur persönliches Eingreifen mit lauter Karnevalsratsche, um die schwarzen Gesellen in die Flucht zu schlagen. Wenn ich mich danach zurückziehe, dauert es meist nicht lange bis der junge Falke den Weg auf nahe gelegene Zweige oder Zäune findet, um sich vom Schrecken zu erholen. Kurze Zeit später steigt er in die Lüfte, um den Rufen seiner Eltern zu folgen.

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© Ilona Weinrich 2024-05-17

Genres
Novels & Stories
Moods
Abenteuerlich, Emotional, Informativ, Inspirierend