Ich bin ein alter Mann von zweiundneunzig Jahren. Es waren grausliche Zeiten, als ich zur Welt kam. Und noch grauslicher waren die Jahre meiner Kindheit und frühen Jugend. Dabei hatte ich noch Glück. Wenn ich zwei Jahre früher gekommen wäre, wäre ich für den Endkampf zur deutschen Wehrmacht eingezogen worden und hätte Richtung Osten marschieren müssen, um die Ländereien dort von den Bolschewisten zu befreien. So war ich sechzehn, als der Krieg zu Ende ging und ich hatte auf Anweisung unseres Ortsgruppenleiters nur noch beim letzten Aufgebot zur Verteidigung des Dorfes, des Vaterlandes, des tausendjährigen Reiches mitzuwirken.
Mit mir, mit meinem Kommen, sei auch die große Not gekommen, erzählte mir mein Großvater immer wieder mal, wenn ich als Kind neben ihm auf der Holzbank vor unserem Haus saß und er an seiner Pfeife zog, für die es keinen Tabak mehr gab und in die er deshalb nicht selten den getrockneten Bart der Maiskolben stopfte. Plötzlich sei das Geld nichts mehr wert gewesen und die Menschen hätten von heute auf morgen alles verloren, was sie zuvor noch hatten, sagte er. Die Scheibtruhe habe man mit Scheinen auffüllen müssen, wenn man zum Bäcker um einen Laib Brot ging, so wenig habe der Schilling an Bedeutung gehabt. Sein bisschen Rente hätten sie ihm gestrichen, die Lumpen. Und dass der Hitler schon recht habe und hoffentlich bald komme und ordentlich ausmisten werde.
Weil auch mein Vater arbeitslos und dann bald mal ausgesteuert wurde, vertraute auch er den Lügen und falschen Versprechungen, die aus Deutschland in unser Land kamen und hier auf die ausgehungerten Bäuche der Heimischen trafen. So war es auch kein Wunder, dass schon Anfang März an vielen der Häuser in unserem Dorf die Hakenkreuzfahne hing und bald darauf der Anschluss mit Jubel und großer Begeisterung gefeiert wurde. Ich war neun und dachte mir nichts, als Vater und Großvater meine Brüder und mich an einem Aprilsonntag, in schönster Montur und mit sauber gescheiteltem Haar, mitnahmen zum Gemeindeamt, wo klein und groß mit einem “tausendprozentigem Ja zu unserem Führer” um die Wette strahlten.
Ich bin das jüngste von sechs Kindern. Meine fünf Brüder sind drei, vier, sieben, zehn und zwölf Jahre älter als ich. Oder besser: waren es. Denn außer mir lebt keiner mehr. Der Älteste und der Zweitgeborene starben im weiten Russland. In Hitlers Krieg um Öl und Weizen.
Ich war dreizehn – alt genug, um zu verstehen – als meine Mutter die Todesnachricht von Franz, dem ältesten von uns sechs Brüdern, erhielt. Und vierzehn, als die Kunde vom Tod Josefs sie erreichte. Ich hörte damals die Schreie meiner Mutter. 1942 den ersten. 1943 den zweiten. Schreie, die mich ein Leben lang begleiteten.
Achtzig Jahre ist das nun her, dass meine Mutter aufschrie, wie sie nie zuvor und niemals mehr später aufschrie. Schreie, die ich nie vergessen werde. Und die mir, dem Buben, klarmachten, dass dieser Hitler so gut nicht sein konnte, wie Vater und Großvater mir immer wieder erzählten.
© Otto Köhlmeier 2021-09-06