“Nochmal”, zische ich mir entnervt zu. Konzentriert starre ich auf das Blatt Papier, das vor mir liegt. Die einzelnen Noten verschwimmen zwischen den Linien und ich kneife die Augen zusammen, um wieder ein klares Bild zu sehen. Reiß dich zusammen! Ich schließe meine Augen, sauge Luft in meinen Brustkorb, halte sie an und atme aus.
Erneut fahre ich über die Saiten, den Noten auf dem Blatt folgend. Mein Kiefer zuckt, und ich presse die Zähne zusammen, während ich zu der Stelle im Stück komme, die verantwortlich dafür ist, dass ich hier seit Tagen sitze. Ich hab’s geschafft… Ich kann es!
Ungläubig spiele ich weiter. Das war sie. Die Stelle, die ich seit Wochen unermüdlich trainiere, in der Hoffnung, sie beim diesjährigen Vorspiel für das königliche Orchester zu zeigen. Ein leises “Plopp” reißt mich aus meinen Gedanken. Ich senke den Blick zum Boden, um zu sehen, was mein Spiel stört.
Mir jagt ein Schauer über den Rücken. Blut, überall. Auf dem federleichten, hellgrünen Kleid aus Seide, welches ich trage. Auf den Saiten der Harfe und auf dem hellbraunen Parkett. Ich habe mir die Finger wund gespielt. Bloß um es diesmal zu schaffen. Oder gesellt sich der diesjährige Versuch ebenfalls zu den acht vorherigen? In denen ich alles von mir gegeben habe, und es war nicht genug?
In Gedanken versunken spiele ich weiter. Nicht mehr das, was die Noten vorschreiben, sondern was tief aus meinem Innersten schreit. Als wäre ich eins mit den Saiten. Das Blut, das an Händen und Harfe entlang zum Boden rinnt, kümmert mich nicht.
Wie durch einen Stich im Herzen erkenne ich die Freudlosigkeit meiner Existenz. Acht Jahre des ewigen Versuchens, eine Bestimmung zu erreichen, die nicht meine zu sein scheint. Einen Wunsch, den ich verfolge, seitdem ich die Saiten einer Harfe zu greifen vermochte. Einen Traum, für den ich mein Leben zu geben bereit war. Mein Leben, meine Finger, meine Zeit. Ich habe alles geopfert.
“Diese Melodie, wo hast du gelernt sie zu spielen?”, erklingt eine düstere Stimme hinter mir. Wie zu Stein erstarrt blicke ich ins Nichts. Für einen Moment habe ich vor Schock vergessen zu atmen. Dann bewegt sich die Gestalt in mein Blickfeld hinein.
“Wer bist du?”, hauche ich, kaum hörbar. Dabei mustere ich das Wesen. Weder Mensch noch Tier. Einzig und allein eine Ansammlung von schwarzem Rauch in Form eines langen Mantels, der sich am oberen Ende zu einer Kapuze formt. In der Öffnung der Kapuze ist jedoch kein Gesicht, nur düstere Leere.
“Du hast sie gespielt, die Melodie, die mich ruft”, raunt es durch den Raum. Eine Stimme so präsent und kraftvoll, dass ich spüre, wie der Hall die Wände erbeben lässt. Daraufhin gleitet der Mantel aus Rauch zur Seite und die Gestalt macht eine einladende Geste, die mich magisch anzieht. Einen Schritt nach dem anderen gehe ich auf die Gestalt zu. Ist sie das, meine wahre Bestimmung?
Das ist mein letzter Gedanke, bevor ich falle.
© Tamara Nessler 2023-08-30