by Sara Memic
Die Wahrheit ist, dass ich selbst jetzt nichts hinkriege. Ich habe alle Zeit der Welt. Ich hatte mich immer beschwert, dass ich mit nur etwas mehr Zeit mein Potenzial entfalten könnte. Ein bisschen mehr Zeit, bitte, danke, und hier ist sie. Und was mache ich? Ich male nicht. Ich schreibe nicht. Ich stehe blöd in der Ecke, wenn mein Bruder einen Anfall hat, immer öfter jetzt da seine Medikamente verbraucht sind und sämtliche Apotheken leergeräumt und geschlossen wurden. Welchen Sinn hätte es auch? Niemand braucht Kunst, niemand braucht Bücher. In guten Zeiten sind sie amüsante Unterhaltungen, Belänglichkeiten. Zeitvertreib für die, die es sich leisten können. Eine andere Welt. Keine, zu der ich je finden könnte.
Ich wusste es schon immer.
Und doch. Wie eine unverbesserliche Närrin hielt ich den ersten Sonnenstrahl für die Ankunft des Frühlings. Ich wollte mehr darüberschreiben, hier, in diesem Tagebuch. All die Dinge, die ich gefunden hatte. Die sich richtig angefühlt haben. Die Gruppe, die mich heranwinkt, wenn ich den Saal betrete. Das Praktikum in der Archäologie und tausend Jahre alte Tonscherben. Der vorsichtige Flirt, Blinzeln und Wegschauen, über Sitzbänke hinweg während der Professor weiter über irgendwelche Kirchen schwadroniert. Freunde, einen Job, die neuen Kapitel für mein Buch. Ich hatte Hoffnung gefasst.
Ich habe nichts geschrieben, weil ich Angst hatte. Angst, dass es nicht hält. Dass es mir aus den Händen gleitet. Dass es mir irgendwie wieder entrissen wird, durch unvorhersehbare Umstände und höhere Mächte. Jede Nacht ein neuer Albtraum im Käfig der vier Wände meines Kinderschlafzimmers. Ein scheuer Kuss zu Neujahr, aber auf dem Weg nach Hause flüstert mir die Angst die Prophezeiung in mein Ohr.
Ich war noch nie so glücklich. Ich hatte nie weniger Vertrauen in ein Happy End. Mein Glück hat nie gehalten. Etwas muss schiefgehen.
Bremsen können den Geist aufgeben. Brücken können einstürzen. Blumen können vertrocknen.
Und ich hatte Recht.
© Sara Memic 2022-08-29