by Lisa Kerper
Die Ferien waren vorbei und das Schuljahr hatte offiziell begonnen. Unsere Klassenvorständin, Frau Becker, betrat die Klasse und kündigte eine neue Schülerin an. Im nächsten Moment klopfte es an der Tür. Ein junges, dynamisches Mädchen mit sportlicher Figur betrat den Klassenraum. Im Grunde sah sie aus wie eine gewöhnliche Jugendliche, wie Du und Ich. Sie trug Turnschuhe und einen für ihren zierlichen Körper viel zu großen Pullover, wie es alle Mädchen heute tragen. Elif war ihr Name, wie ich später erfahren sollte. Gemeinsam mit ihren Eltern übersiedelte sie in den Sommerferien von Linz nach Wien. Sie hatte zwei Brüder und eine kleine Schwester. Und einen Hund namens Rokko. Ein Golden Retriver.
Trotzdem hafteten in diesem Augenblick, als Frau Becker die neue Schülerin vorstellte, alle Blicke auf ihr. Einige der Schülerinnen in der ersten Reihe streckten ihre Köpfe zusammen und wirkten so, als würden sie Geheimnisse austauschen. Die Jungs an der Fensterseite des Klassenraums kicherten in einem unangenehmen Ton miteinander. Doch Elif war eine Jugendliche wie wir alle. Was sie unterschied von uns? Sie trug ein schwarzes Kopftuch, das ihre Haare bedeckt und nur ihr Gesicht zeigte. Einen Hijab – wie sie mir später erzählte. Sie setzte sich an den Platz neben mir.
Einige Schülerinnen und Schüler aus den Reihen vor uns drehten sich zu uns um. Elif wurden Bezeichnungen wie “Terroristin” und “Araberbrut” zugeflüstert und ich merkte ihr an, wie sie mit den Tränen kämpfte. Nach dem Unterricht gingen wir gemeinsam in die Mensa und ich fragte sie, warum die anderen sie so nannten. Sie kannten sie doch gar nicht. Elif sagte, es sei das Kopftuch. Immer und überall sei sie die Fremde, die Ausländerin. Obwohl sie in Österreich geboren ist und Deutsch spricht.
Im Laufe der Monate, die ich mit ihr verbrachte, in denen wir sowohl in der Schule als auch außerhalb des Unterrichts Zeit miteinander verbrachten, lernte ich nicht nur viel über ihre Familie und ihre Herkunft, sondern noch viel mehr über die Vorurteilsbehaftetheit der Menschen. Elif erzählt von ihren Großeltern, die 1954 aufgrund ihrer religiösen und ethnischen Benachteiligung aus der Türkei nach Österreich geflohen sind und sich in Linz niedergelassen haben. Zuhause spricht ihre Familie allerdings kein Türkisch, sondern Kurdisch. Kurmanci heißt die Sprache, erzählt sie mir. Sie habe kurdische Wurzeln, das ist ihre Ethnie. Und das Kopftuch, den Hijab, trage sie nur, weil es ihr so besser gefällt. Sie fühlt sich beschützt und sicher dadurch. Ihre Eltern haben sie sehr religiös erzogen, aber nicht muslimisch. Sie ist Alevitin. Eine Religion, die sich in Anatolien entwickelt hat und sich grundlegend vom Islam unterscheidet. Ich konnte nicht verstehen, wie unsere Mitschülerinnen und Mitschüler sie als etwas bezeichnen, das sie nicht ist; ohne sie zu kennen oder mit ihr gesprochen zu haben. Elif ist ein Mädchen wie jedes andere und verdient es, genauso behandelt zu werden. Mit Respekt und ohne Vorurteile.
© Lisa Kerper 2023-10-09