Morgens lügt der Spiegel

Christine Büttner

by Christine Büttner

Story
Graz 2024

Sieben Uhr – an einem trüben Maitag erwache ich wie gerädert und denke mir: „Na, altes Haus, das Frühstück ruft!“ Das heißt, das kuschelige warme Bett verlassen, ins Bad wanken, die zerzausten Haare bändigen, eine kalte Gesichtsdusche, um die Lebensgeister zu erwecken, Morgenmantel anziehen, um dann in der Küche das morgendliche Frühstück zuzubereiten. Bis jetzt habe ich nur einen flüchtigen Blick in den Spiegel geworfen, denn der Schleier der Müdigkeit hat ihn für eine ganz kurze Zeit ausgetrickst.

Ich decke den Tisch und lege geschnittene Radieschen auf den Servierteller, auf dem bereits Käse, Schinken, Paprika, Tomaten und eine kleine Gurke angerichtet sind. Mein Ehegespons schlummert noch selig in den Federn, aber nach zweimaligem Rufen erscheint er auch etwas „zerwuselt“ in der Küche, schlurft noch schnell ins Bad, um seine Mähne zu bändigen.

Nach einer ausgiebigen Morgenmahlzeit, begebe ich mich ins Bad und denke mir, als ich diesmal mit klarem Blick mein Gesicht haarscharf erkenne: „Mein Gott, bin ich alt geworden!“ Ich sehe die Falten, die weißen Strähnen in meinem Haar und auch das nicht mehr faltenfreie Dekolleté. Es hilft nichts, ich putze mir die Zähne, springe unter die Dusche, versuche mit Gesichtscreme die Falten „glattzuziehen“, was natürlich eine vergebliche Liebesmüh‘ darstellt.

Inzwischen hat sich auch mein Angetrauter ins Bad gegeben und ich stehe vor meinem Kleiderschrank und probiere einige Kleider und Hosen an. Die Frage: „Was soll ich anziehen?“, steht im Raum, ja, die Figur lässt auch zu wünschen übrig. Ich betrachte mich in Unterwäsche und natürlich manifestiert sich der Satz: „Ich muss unbedingt abnehmen“. Mein Spiegel lacht mich frech an und meine Laune wird immer mieser. Mein schwaches Nervenkostüm macht sich breit und da überlege ich, soll ich das Kleid des Schweigens überziehen oder doch das Deckmäntelchen als Lösung wählen?

In diesem Augenblick zieht mein Mann seinen Anzug aus dem Kleiderschrank, schlüpft hinein und stellt sich neben mich vor den Spiegel. Er klopft sich auf sein kleines Bäuchlein und bemerkt trocken: „Passt!“ Ich muss in diesem Moment lachen, denn da gibt es kein Hadern mit dem Älterwerden. Es ist eben, wie es ist! Ich greife nach einem bequemen blau gestreiften Kleid, wähle den leichten Leinenmantel und denke mir: „Nicht schlecht, passt!“ Dann schminke ich mich dezent, bürste meine Haare mit Schwung, und als wir gerade die Schuhe übergestreift haben, bemerkt mein Gatte schmunzelnd: „Gut schaust aus! Das Kleid mit dem Mantel steht dir!“

Die trüben Gedanken vor dem Spiegel sind wie weggeflogen und ich weiß: Ich bin zwar um einiges älter geworden, aber nach den morgendlichen „Renovierungsarbeiten“ gibt es trotz meiner Jahre eine ganz passable Lösung. Nochmals ein kritischer Blick in den Spiegel und ich nicke mir jetzt zufrieden zu. Ich weiß, der Spiegel nach dem Aufstehen lügt nicht, aber nach dem Anziehen bin ich mit dem Ergebnis zufrieden und murmle: „Lieber Spiegel, es passt!“

© Christine Büttner 2024-05-30

Genres
Novels & Stories, Biographies
Moods
Emotional, Komisch, Hoffnungsvoll, Reflektierend
Hashtags