Morning Glory

Thomas Vitzthum

by Thomas Vitzthum

Story

Der letzte einschneidende Moment in meinem Leben passierte im Jahr 2017. Wie jedes Jahr fuhren wir VĂ€ter mit unseren Kindern in den Semesterferien auf Skiurlaub in den Pinzgau. In unserer BlĂŒtezeit waren wir eine Gruppe von 20 Personen aller Altersstufen. Dementsprechend breiteten wir uns im Quartier aus und belegten letztlich die ganze Pension. Eine friedliche, einfache, gemĂŒtliche Unterkunft abseits der Pisten mit WLAN-Straße fĂŒr die Kids und begehbarem KĂŒhlschrank fĂŒr die MĂ€nner. Das Haus wurde irgendwann erbaut und in den 70ern mit Fremdenzimmern adaptiert.

In dieser Ära war es ĂŒblich, Nasszellen einzubauen, die, im wahrsten Sinne des Wortes, aus einem Guss produziert wurden. Ich nehme an, dass diese, wie so viele andere Erfindungen auch, in der Raumfahrt ihren Ursprung hatte. Dusche, Waschbecken, Klo, alles innerhalb eines Lidschlags erreichbar.

Eines Morgens begab ich mich auf die Toilette und setzte mich mit einem dafĂŒr notwendigen One-Eighty-Spin auf die Brille. Schon als Kind wurde mir von Freunden meines Vaters beim sonntĂ€glichen FrĂŒhschoppen erklĂ€rt, dass das Harnlassen um einiges besser wĂ€re als schnackseln. Da mir damals das Wort schnackseln ĂŒberhaupt nichts gesagt hat, habe ich nur mild lĂ€chelnd genickt. Mittlerweile kenne ich beides und pflichte den damaligen Stammtisch-Weisheiten mit EinschrĂ€nkungen bei.

GlĂŒcklich und erleichtert erhob ich mich und krachte mit vollem Schub auf die Unterkante des gegenĂŒberliegenden Reserverollen-Regals. Der von allen guten Weichmachern verlassene Kunststoff bot meinem prominenten NasenrĂŒcken erheblichen Widerstand, ein schmerzerfĂŒllter Urschrei ließ das Haus und das halbe Salzachtal erzittern. Johnny WeissmĂŒller griff im Himmel erschrocken an einer Liane vorbei, ich versuchte meine Situation zu optimieren. Die abgerundete Kante hatte sich jedoch so unglĂŒcklich mit meinem Gesichtsknochen verhakt, dass ich mich nicht befreien konnte. Durch TrĂ€nen verwĂ€ssertes Blut lief mir an den Mundwinkeln hinab und tropfte auf den Boden. Befeuert durch meinen nun aufkeimenden Zorn entschied ich mich fĂŒr die andere Richtung, drĂŒckte meine FĂŒĂŸe durch den Boden und riss die ganze Einheit aus ihrer Verankerung. BeflĂŒgelt durch diese Jetzt-Erst-Recht-MentalitĂ€t entschloss ich mich zu einem Five-Fourty-Nosegrab und marschierte – ein Spalier von Geweihspitzen touchierend – in den FrĂŒhstĂŒcksraum. Schlaftrunkene Augenpaare nahmen kaum Notiz von mir, das nahezu meditative Geklimper von Löffeln in Tassen ĂŒberlagerte melodiös die KaugerĂ€usche mĂŒder MĂŒnder.

Eine Stunde spĂ€ter standen wir alle unterschiedlich motiviert auf der Piste. Das Aufsetzen der Skibrille war eine masochistische Herausforderung fĂŒr mich: obgleich ich wusste, dass es weh tun wĂŒrde, war der Schmerz unangenehm. WĂ€hrend meinen Freunden LachtrĂ€nen die Wangen hinunterliefen, erzeugten Blut, Schweiß und TrĂ€nen unter meiner Brille das Mikroklima eines Buschkrankenhauses.

© Thomas Vitzthum 2022-04-13

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