Sie wollte nicht schlafen. Ich wollte mich unter der Decke verkriechen.
Sie wollte nicht aufhören zu schreien. Ich wollte nur noch Ruhe.
Sie wollte nicht fröhlich sein. Ich wollte nur noch weinen.
Sie wollte nicht bei mir sein. Ich wollte weg. Ich wollte frei sein. Ich wollte keine Mama sein.
Die ersten drei Monate nach der Geburt waren die Schlimmsten. Zurückblickend habe ich keine einzige schöne Erinnerung daran. Wie ein dunkles, nie endendes Loch, ohne die Hoffnung auf Besserung. Ich erinnere mich an Angst, an Versagen, an Verzweiflung, an Hilflosigkeit, an Appetitlosigkeit, an schlimme Gedanken, an Enge, an Weinen ohne Ende – von mir und von meiner Tochter. Diesem Wunschkind, diesem wunderschönen Wesen, so voller Kraft und Intensität. Für mich aber lange Zeit nur ein Quell nicht enden wollender Qual.
Sie wurde ruhiger, das Schreikind wurde zu einem ausgeglichenen und fröhlichen Kind. Es folgte für mich die Zeit des dunklen Sonnenscheins. Ich liebte sie nicht – ich konnte sie nicht lieben. Ein ganzes Jahr lang. Aber das sagte ich niemandem. Das wäre das Eingeständnis von Versagen auf ganzer Linie. Es reichte das schlechte Gewissen, das alleine brachte mich fast um. Ich funktionierte, irgendwie, nach außen zeigte ich mich glücklich. Und fragte mich gleichzeitig, wie lange ich noch durchalten würde?
Und dann – nach einem Jahr voller Leiden – fiel mir ein Buch in die Hand, als wäre es Eingebung, genau dieses zu nehmen. Darin wurde eine Geschichte erzählt. Die Geschichte von jemand anderem und gleichzeitig meine eigene. Es war wie eine Erleuchtung. Zum ersten Mal las ich das Wort Wochenbettdrepession und Wochenbettpsychose und wusste gleichzeitig, dass dies die Ursache fĂĽr meine GefĂĽhle war. Ein ganzes Jahr lang. Nicht ich war das all die Monate, es war eine Krankheit mit einem Namen.
Diese Erkenntnis änderte alles in mir. Ich sah meine Tochter plötzlich mit völlig anderen Augen, nicht mehr durch den Schleier der Unsicherheit, des schlechten Gewissens. Und damit kam auch schlagartig die Mutterliebe – sie überrollte mich so heftig, dass ich kaum Luft bekam. Ich begriff, dass sie die ganze Zeit da war, in mir drin, aber gut versteckt und zurückgezogen, von anderen Gefühlen überlagert.
NatĂĽrlich war dies nur der Anfang der Verarbeitung. Aber es war der Anfang.
Und heute? Meine Tochter wird demnächst 13 Jahre alt. Ich liebe dieses Alter. Sie wird erwachsen, sie hat eine eigene Meinung, wobei sie die eigentlich schon immer hatte. Sie probiert Dinge aus, die ihr später im Leben helfen werden. Und ich darf sie dabei begleiten. Wir haben ein sehr inniges Verhältnis, sie vertraut sich mir an und fragt mich um Rat. Auch wenn ich immer das Gefühl haben werde, um das ganze erste Jahr betrogen worden zu sein, so habe ich meinen Frieden damit gemacht. Es ist ein Teil von mir geworden, der durch mein Erzählen anderen Müttern helfen kann. Und damit hat dies alles einen Sinn bekommen.
© Sigrid Allerstorfer 2021-08-19