Leben heißt Veränderung. Nichts bleibt so, wie es ist. In den Naturwissenschaften wird viel darüber geredet und geforscht. Energie geht nicht verloren, sondern ändert die Form. Geschichte wird mit jedem Augenblick neu geschrieben und nie gleicht ein Tag dem anderen bis auf die Sekunde. Kinder wachsen, Pflanzen verändern die Luft, Sterne entstehen und vergehen, Gedanken werden manipuliert, korrigiert und verworfen.
Leben heißt Veränderung. Doch den krassesten Wandel macht eine Raupe durch. Ganz real und nicht nur “symbolisch”. Eine Raupe zieht sich zurück, verpuppt sich und zersetzt sich dann vollständig in ihre Einzelteile! Um sich dann neu zusammenzubauen. Erstmalig beobachtet und zeichnerisch dokumentiert von Maria Sibylla Merian im 17. Jahrhundert. Heute gibt es YouTube-Videos, die in Zeitraffer zeigen, wie sich die kleinen schwarzen Raupen der Tagpfauenaugen häuten, verpuppen und aus dem Kokon schlüpfen. Es ist ein Wunder. Selbst mit den Bildern auf dem Bildschirm geht nichts von der Magie und der Faszination flöten. Es ist erstaunlich, dass am Ende ein völlig neues Wesen entsteht. Zu Beginn eine Raupe und am Ende ein Lebewesen mit Flügeln und buntem Muster …
Diese Metamorphosen gibt es natürlich überall. Nicht immer so anschaulich wie bei einem Schmetterling, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich in meinem Leben auch schon den einen oder anderen Wandel durchmachen müssen. So “unspektakulär” und “im Verborgenen” wie in einem Kokon würde ich das nicht beschreiben – aber als Transformation in jedem Falle. Und dieser Vorgang war oft überaus schmerzhaft, allumfassend, verwirrend und beängstigend. Sich in seine eigenen Einzelteile zu zerlegen, sich von Dingen zu trennen, andere hinzuzunehmen, das Neue zu akzeptieren und sich selbst nicht völlig in dieser Raupensuppe zu verlieren, ist verdammt kompliziert. Das mag anderen anders gehen aber der Prozess des Loslassens und die Neuprogrammierung der eigenen Gedankenmuster hat mich immer viel Arbeit und Mühe gekostet. Gegen den eigenen Geist anzugehen, sich selbst zu klären und die eigene kleine Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten – harte Kost. Rückblickend gibt dann alles immer Sinn und man fragt sich, wovor man solche Angst hatte und warum sich das Unterbewusstsein so gegen die Veränderung gewehrt hat. Aber währenddessen ist es ein Sterben und nur der Glaube daran hält einen aufrecht, dass es danach weitergeht. Das ist kein Wissen. Man hofft und betet und bittet.
Ich spüre, dass es bald wieder so weit ist. Meine innere Raupe hat gefressen und wird sich häuten. Die Zeit im Kokon wird für alle Beteiligten bekannt anstrengend aber leider hält nichts diesen Prozess auf. Ich MUSS das tun, ich MUSS da hindurch, ich WILL mich weiterentwickeln und mit meinen Flügeln über die Wiese fliegen. In der Raupensuppe ist es verdammt einsam. Niemand kann dort mit hineingehen. Da muss ich alleine rein. Ginge es auf einem anderen Weg, würde ich den ausprobieren. Aber wenn ich wieder auftauche, bin ich eine aktualisierte Version, ein Wesen, das sich erneut angepasst hat und mit den Umständen besser zurechtkommt. Daran glaube ich. Daran MUSS ich glauben. Um die Zeit der Auflösung zu überstehen.
© Auguste Sandner 2024-05-23