Nimmerland

Emilia Paul

by Emilia Paul

Story
Nimmerland 2023

Gestern war ich noch das MĂ€dchen, das in Peter Pan verliebt war. Das MĂ€dchen, das nach Nimmerland fliegen und nie wieder umkehren wollte. Und heute bin ich die Mama, die sich manchmal genau das Gleiche wĂŒnscht. 


Hab’ vorhin seit Langem mal wieder den zweiten Teil von Peter Pan mit meinem Kleinen angesehen. Peter Pan war als Kind mein absoluter Lieblings-Disneyfilm und die Idee dahinter, den Alltagssorgen einfach mal so zu „entfliehen“, die verrĂŒcktesten Abenteuer zu erleben und niemals erwachsen werden zu mĂŒssen, hat mich bereits als kleines Kind (ohne die vielen mittlerweile politisch inkorrekten Inhalte/Stereotype dieses Films wahrnehmen zu können) wahnsinnig fasziniert. Doch wie ich den zweiten Teil von Peter Pan mit Play abspiele, ĂŒberkommt mich vielmehr emotionale ErschĂŒtterung statt eine schöne Kindheitserinnerung. TrĂ€nen fĂŒllen meine Augen. Als Kind hatte ich eine naive, scheinbar unnötige Angst vor der lauten Kriegs-Szenerie des Films. Heute – 20 Jahre spĂ€ter – als Mama – empfinde ich reale Traurigkeit und Hilflosigkeit, weil sich mir meine HĂ€nde durch die zunehmenden Krisen in dieser Welt immer mehr wie gebunden anfĂŒhlen – vor allem, wenn es um die Zukunft meines Kindes geht. So fĂŒhle ich mich direkt zu Beginn des Films als die Kinder von der mittlerweile erwachsenen Mama Wendy sich wĂ€hrend der Bombenangriffe des Zweiten Weltkrieges mit ihr im Schutzbunker verstecken, mehr als getriggert. Und das, obwohl ich keine Ahnung hab, wie sich reales Kriegserleben wirklich anfĂŒhlt. Trotzdem erschĂŒttert es mich direkt, selbst fiktive Menschen darunter leiden zu sehen. Denn ihre Angst ist die aktuelle RealitĂ€t vieler Menschen. Doch vor allem der Gedanke, dass Kinder, die nichts fĂŒr all das Chaos auf diesem Planeten können und doch am meisten davon betroffen sind, weil ihre Zukunft so oft bereits vor ihrer Geburt in TrĂŒmmern liegt, lĂ€sst mich Wut, Trauer und Schmerz empfinden. Und auch wenn mich dieses Schicksal so vieler Kinder, MĂŒtter und VĂ€ter schmerzlich zerreißt, bin ich zeitgleich unfassbar dankbar fĂŒr die scheinbare, kleine Sicherheit meines Kindes und wie gut ich es habe, ohne Sirenen und Bombenangriffe am nĂ€chsten Morgen aufstehen zu können. TrĂ€nen beginnen meine Wangen herunterzulaufen. Erst will ich sie unterdrĂŒcken, doch dann lasse ich sie zu. Mein Kleiner bemerkt es und fragt, ob alles okay sei. Und ich nehme sein kleines Gesicht in meine HĂ€nde – wie Wendy das ihres kleinen Sohnes Daniel und lĂŒge ihn beschwichtigend an, wohl-wissend, dass er die Wahrheit irgendwann mit eigenen Augen sehen wird – „Ja, mein Schatz. Mama ist manchmal nur etwas traurig, wie die Welt ist.“ FĂŒr ihn reicht diese rĂ€tselhafte Antwort aus. FĂŒr mich birgt sie die grĂ¶ĂŸte Sorge unserer Zukunft. 


Heute bin ich die Mama, die aus dem Fenster guckt und sich manchmal wie Wendy Peter Pan zurĂŒckwĂŒnscht. Die Mama, die einfach mal alles vergessen und durch den Himmel fliegen will und die am Ende doch wieder nach Hause möchte, weil sie Zuhause einen kleinen Menschen hat, der wertvoller als jedes andere Abenteuer ist. Und die diesem kleinen Menschen manchmal erzĂ€hlen wĂŒrde, dass Nimmerlandï»ż die Wahrheit und jeder Krieg ein MĂ€rchen ist. 

© Emilia Paul 2023-11-16

Genres
Novels & Stories
Moods
Abenteuerlich, Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Reflektierend
Hashtags