by Emma Hartung
Ich weine – schon lange. Der Schmerz fließt aus mir heraus, bildet vor mir ein Tränenmeer. Ich spüre, dass die Wellen, die gierig an meinen Beinen ziehen, mich verschlingen wollen. Ich weine, weil du nicht mehr da bist. Ich weine, weil du mich verlassen hast. Ich weine, weil ich dich vermisse. Ich weine, weil ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist. Ich weine, weil ich dich nicht wieder sehen werde. Dass ich so weit laufen, so tief tauchen, so hoch fliegen kann, wie ich will – ohne dich zu finden. Du bist nicht mehr auf dieser Welt.
Ich weine, weil es ungerecht ist. Ich weine, weil deine Zeit viel zu früh abgelaufen ist. Ich weine, weil die Krankheit nicht hätte stärker sein dürfen. Ich weine, weil du Schmerzen hattest. Ich weine, weil du vor meinen Augen kleiner wurdest. Ich weine, weil ich dich so nicht in Erinnerung behalten will. Ich weine, weil die Welt ohne dich anders ist. Weil es schwerer ist. Ich weine, weil du uns allen als Teil unserer Familie fehlst. Ich weine, weil du mich verstanden hättest, weil du deinen Papa auch zu früh verloren hast. Ich weine, weil du mich trösten kannst. Ich weine, weil ich Angst habe weiterzugehen. Ich weine, weil meine Kinder dich nur aus meinen Erzählungen kennen werden – und weil ich fürchte, dir nicht gerecht zu werden. Ich weine, um dich nicht zu vergessen. Ich weine, um jede noch so schmerzliche Erinnerung zu schätzen. Wie du mich zum Lachen gebracht hast, wie du mich ermahnt hast, wie du für mich gekocht hast, wie du Klavier gespielt hast. Ich weine, weil du so viel wusstest. Ich weine, weil ich so gerne von dir gelernt habe. Ich weine, weil wir nicht wussten, wie wenig Zeit uns blieb. Ich weine um all die verlorenen Möglichkeiten. Ich weine, weil es unfair ist.
Ich weine, weil die Welt sich weiterdreht; genau wie du es gesagt hast. Ich weine, weil ich dich nur in meinen Träumen sehen kann. Ich weine, weil diese Träume zu selten sind. Ich weine, weil noch so viele Jahre ohne dich vor mir liegen. Ich weine, weil du mir wichtig bist. Ich weine, weil ich sonst nicht weiter weiß. Ich weine, weil du es nicht mehr kannst. Ich weine, weil du nicht mehr da bist. Ich weine, weil du mich verlassen hast. Ich weine, weil ich dich vermisse.
Ich weine, aber die Tränen fallen langsamer. Bald kommt die Ebbe und zieht die letzten Tränen aus mir heraus. Lässt mich alleine zurück. Einsam und leer. Erschöpft und immer noch traurig verharre ich. In stillem Warten auf die Flut.
© Emma Hartung 2022-03-09