Schon länger hat eine schwarze, tief hängende Wolkenwand im Südwesten gedroht. Inzwischen donnert es laut. Ich fläze in meinem bequemen Lesesessel, in der Hand das druckfrische Debüt von Lewinsky jr. Wenn ich im Trockenen sein darf, sehe ich mir gern Gewitter an und hole mir dazu einen Apfel.
Buch und Lesebrille lege ich auf das Tischchen und betrete kurz die Wohnung. Als ich zurück auf den Balkon will, traue ich meinen Sinnen nicht: Der mächtige Ahorn vor dem Haus rauscht ohrenbetäubend und bewegt sich in infernalischem Tanz. Jaulend reißt er sein Kleid hoch und schleudert die trockenen Ästchen von sich. Durch die Luft faucht, zischt, lärmt, kreischt, wütet, schlägt es in alle Richtungen. Abertausende Hexen und Kobolde in wilder Jagd. Äste peitschen vorüber, Borkenrinde schlägt mir ins Gesicht, es klappert und klippert gegen die Glaswand.
Eine Riesenfaust presst sich um meinen Körper. Das Herz setzt ein paar Schläge aus und meldet sich mit hartem Schmerz in der Kehle wieder. Mir ist, als werde ich wie ein Wäschestück gebeutelt, von allen Besen der Teufel bedrängt, sodass ich mich am Türrahmen festklammere. Links sind die kleineren Kräutertöpfe, die Rosen und das Mandarinenbäumchen am Geländer befestigt. Eine Ballade drängt sich vor: “Noch da, John Maynard?” Ja, sie halten stand, aber ich lasse sie nicht aus den Augen.
Der Regen kommt nun waagrecht, die Wucht des Orkans nimmt mir mehrmals den Atem, der Druck schüttelt mich durch. Ins Wohnzimmer will ich mich retten, da sehe ich im Augenwinkel, wie sich rechts etwas bewegt. Die größte Blumenkiste hat sich aus ihrer Halterung gerissen, ist von der Last der großen Malven gekippt und nun im Begriff, sich vom zweiten Stock in die Tiefe zu stürzen. Mit einem Satz bin ich bei ihr, ziehe sie zu mir her, binde hastig die Bewässerung los und hieve sie mit aller Kraft samt Untersatz über die Brüstung. Geknickt, aber sicher, lehnen die Büsche an der Mauer.
Jetzt geht es richtig los. Ein satanisches Orchester scheint die Saiten von den Klangkörpern zu reißen und seine Instrumente zu zerschmettern. Frohlockend holt sich die Hölle ihren Obolus. Es orgelt auf allen Registern, brüllt, raubt sich, was nur irgend zu fassen ist. Auch meine Lesebrille sucht das Weite, das Buch kann ich eben noch retten.
Zitternd vor Schreck und triefend flüchte ich in die Wohnung. Die zuvor hochgesteckten Haare hängen mir in Strähnen über das Gesicht. Rasch ein Handtuch, ich bin total durchnässt. „Das dauert sicher nur fünf Minuten“, denke ich. Doch der Amok des Dies Irae hält noch unvermindert an, als schon die ersten Feuerwehrhörner über die Ausfallstraßen gellen.
Mit meinen 74 Jahren habe ich noch nie einen ähnlichen Hexensabbat erleben müssen und hoffe auch auf keinen weiteren. Die Brille fand ich heute Morgen am Gartenzaun, ohne jeden Kratzer.
Foto: Lula Volk / unsplash
© Maria Büchler 2024-08-01