Paulchens erster Brief ans Christkind

Linnea

by Linnea

Story

Wie gewöhnlich kam ich gegen Abend von der Arbeit nach Hause. Mein Mann erschien mir etwas aufgeregt. Er konnte es gar nicht abwarten, bis ich aus meinem Mantel geschlüpft war. „Paulchen hat heute einen Brief ans Christkind geschrieben!“ verkündete er, ganz stolzer Vater. „Aber Paulchen ist doch nicht einmal drei, und er kann keinen einzigen Buchstaben schreiben!“ „Na ja, trotzdem, er hat seinen Wunsch auf Papier gekritzelt, und das Briefchen aufs Fensterbrett gelegt. Ich habe es hereingeholt.” „Und?“ Ich wurde neugierig. „Was wünscht er sich?“ Roberts Gesichtsausdruck vermittelte mir eine gewisse Hilflosigkeit. “Das ist ja das Problem!“ Ich warf einen Blick auf den Brief.

Da waren einigermaßen parallele Bleistiftlinien, die mit Querlinien durchkreuzt waren, weiter unten auf dem Blatt Linien ähnlich dem Buchstaben U und ein Gekritzel, das die Unterschrift unseres Hausarztes hätte sein können. „ Das sieht aus wie eine Leiter!“ vermutete ich-. „Ja, aber was will Paul mit einer Leiter? Und was sollen diese U-förmigen Gebilde und das Rechteck mit einem winzig kleinen Rechteck auf dem Rücken?“ Nach einigen Interpretationsversuchen gaben wir auf.

Am nächsten Morgen sauste Paulchen sofort zum Fenster. Befriedigt stellte er fest, dass das Christkind seinen Brief schon geholt hatte. „Paul, was hast Du dem Christkind geschrieben? fragten wir. Prompt erhielten wir als Antwort: „Die Mia im Kindergarten hat gesagt, das darf man niemandem erzählen“. Was nun? Gegen Mia schienen wir keine Chance zu haben. Ein neuer Anlauf. „Vielleicht kann das Christkind deinen Brief nicht lesen?“„Das Christkind kann alles lesen und ich habe die geraden Stückeln ganz schön gerade gemacht!“ stellte Paulchen nachdrücklich fest. Wir gingen sofort diesem Hinweis nach. Gerade Stückln? Vielleicht war diese Sprossenleiter ein Christbaum? „Falls er Roberts Zeichentalent geerbt hätte, könnte das hinkommen. „Du hast aber für das Christkind einen schönen Christbaum gezeichnet!“ lobte ich Paul. „Das ist kein Christbaum! Es klang fast beleidigt. Also, Fehlanzeige. Wir grübelten weiter. Wir rechneten damit, dass Paulchen auf Dauer nicht dicht halten würde. Da hatten wir uns gründlich getäuscht. Paulchen fragte jeden Tag, wie lange es wohl dauern würde, bis das Christkind mit seinem Paket käme. Sein Weihnachtswunsch machte uns Sorgen. Wir würden ihn nicht erfüllen können.

Wenige Tage vor dem Fest räumte ich das Kinderzimmer auf. Ich legte Pauls Bilderbücher in die Lade, als mein Blick auf sein Lieblingsbuch fiel. „Die kleine rote Lok dampft davon“. Auf dem Umschlag dampfte die rote Lok gerade in einer Kurve auf mich zu. Da hatte ich sie: die geraden Gleise und die gebogenen Gleise, die rechteckige Lok, aus deren Rauchfang Dampfwölkchen aufstiegen. Weihnachten war gerettet.

Als Paul das Paket auspackte, warf er uns einen triumphierenden Blick zu. „Das Christkind hat meinen Brief doch lesen können!“ gab er uns zu verstehen. Wir verstanden.

© Linnea 2022-12-15