Warum vertrauen wir? Wo wurzelt das Gefühl?
Niklas Luhmann beschreibt Vertrauen als „einen Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität”. Persephone gefällt die mechanistische Erklärung.
Die männliche Perspektive
Die Verheißungen von Academia sind wahr geworden. Persephone ist jetzt eine Kongresspersönlichkeit. Sie hält Vorträge, die über ihr Fach hinaus Beachtung finden. Sie schlägt Angebote aus. Sie will in G. bleiben, Professorin werden und schließlich den Fachbereich leiten. Wie gesagt, sie entstammt einem Professorenhaushalt, für sie ist eine Universität ein wabenförmiges Gebilde, in dem sie gleichzeitig Biene und Imkerin sein kann. Zwei Konferenzen liegen zeitlich und räumlich so nah beieinander, dass Persephone zwischen den Schauplätzen zu pendeln beabsichtigt. Asim (ein Künstler, von dem noch die Rede sein wird) begleitet sie zur ersten Station. Die zweite erreicht sie allein, angeblich nach einem finalen Streit. Ich bin ihr vorausgeeilt und hole sie am Bahnsteig ab. Wir gehen sofort auf mein Hotelzimmer. Champagner lagert im Badewanneneisbad. Wir bewegen uns auf einer bewährten Route, darauf achte ich. Ich benetze Persephones Bauchnabel. Sie soll nicht glauben, dass ich ihr etwas verüble. Niemand versteht sie besser als ich. Wir kommen beide aus Rostock. Wir sind aufgewachsen mit den Erzählungen von den ersten Westreisen unserer Eltern, noch unter dem Eindruck, nicht zu wissen, „wo Italien liegt”. Geprägt hat uns die elterliche Entwurzelung und Erbitterung und das Gefühl, in undurchsichtigen Verhältnissen die Fahne des Anstands auf dem Fundament einer Erziehung zur Gemeinschaftlichkeit hochzuhalten. Dazu kam die Erotisierung von Verlusten in tribalistischen Verherrlichungsszenen einer verlorenen Zeit. Persephone ist sich ihrer Liebe zu mir gerade vollkommen sicher, so wie sie sich zwei Wochen später ganz sicher sein wird, dass zwischen uns nichts mehr sein kann. Zwischen den Sätzen „Ich folge dir, hörst du?” und „Wir dürfen uns nicht wiedersehen“ liegen am Ende nur zehn Tage.
Persephones Perspektive – Du hast es so gesehen und keine andere Deutung zugelassen. Du glaubtest, alles im Griff zu haben. Ich sage dir, wie du dich wahrnimmst. Ich komme aus einem guten Stall, ich habe eine gute Ausbildung, einen guten Kopf … Ich kenne alle und alle kennen mich. Ich hätte mehr aus mir machen können als Sportler, aber beruflich habe ich keinen Millimeter verschenkt. Das stimmt auch alles. Bloß ist das nicht mehr als eine Schliere auf der Windschutzscheibe im Vergleich mit Superpower-Verbindungen. Menschen wie ich führen zwei Leben. Einerseits sind sie in der Gesellschaft und tragen sich da so vor, dass manche denken, was für eine geile … Alle registrieren den hohen Status, den selbstbewussten Auftritt, die teuren Klamotten. So oder so triggert sie der phonetische Hochmut. Sie vernehmen die Appelle der Hochsprache und stehen unbewusst stramm. Sie sind Untergebene von Geburt. Das wird ihnen nie klar. Sie sterben mit einem falschen Gefühl von Gleichheit. Es tut mir nicht leid, das sagen zu müssen. Du hattest nie eine Chance.
© Jamal Tuschick 2024-07-14