Polarkreis 18

Magdalena Sturmbauer

by Magdalena Sturmbauer

Story

Marie würde gerne wissen, wieso es meistens noch so rauscht und brüllt, bis die Augen flimmern; wenn alles kippt und man den Bach freischaufelt, den man hinunterrasen wird. Rauschen tut es, aber beruhigend hell, diesmal keine überheblichen Flügel am Wachsen. Marie will ihrer besten Freundin Eleanor sagen, sie würden es doch beide wissen. Marie mochte Anja und Emil sehr gerne, doch die hat sie leider verloren. Manche zum zweiten Mal, dafür richtig. Marie musste ihrer Schwester Astrid versprechen, sie nicht in den Flitterwochen anzurufen und Bali wäre noch keinen Spott wert. Noch.

Ein bisschen hat sie auch geschrien, leise in sich hinein, weil manche Wahrheiten tief schneiden. Es wird ein neues altes Jahresende werden; Marie weiß es; dann sind alle Fäden gekappt, tote Chats reihen sich stumm aneinander. Altbekannt autonom durch die Straßen ziehen, sich wie Katzen an den letzten warmen Ecken der Mauern reiben. Jetzt aber. Wirklich allein-allein. War doch schön. Ihr werden unsichere, kalte Fühler wachsen, am Weihnachtstisch, in der U-Bahn, in der Küche ihrer Wohnung; weil es drinnen erschreckend leise geworden ist und zu viele Dinge zu wenig Sinn ergeben wollen. Alien. In unbeobachteten Momenten starrt sie hohl auf Bildschirme und in fremde Augen, die Hände unbedarft am Körper, der eine einzige große Entschuldigung und betretenen Dank ausstrahlt. War nur alte Liebe, nur Gewohntes. Nur verwandte Gemüter und Kinderseelen mit Erwachsenenfehlern. Hat Marie nicht gedacht, hat Emil nicht gedacht. Schon gar nicht Eleanor. Beide hab ihr’s gewusst. Alle haben’s gewusst.

Ihre Mutter meint, sowas mache erwachsen, Kinderkriegen und Fehler machen. Marie möchte dann gerne antworten, ob sie sein Gesicht schon mal im richtigen Licht gesehen habe, da sähe er selbst noch aus wie ein Kind. Und ob sie ihr ein paar Irrtümer nennen könne. Marie zerpflückt nachts Gesagtes in seine Einzelteile, lange; bis pochende Ungewissheit über ihr schwebt und sie findet, dass Zukunft außergewöhnlich anders aussehen kann. Deine, meine.

Am Schwangersein wird ihre Schwester sein; Eleanor am Urlaubbuchen und Steuernzahlen; und alle finden ihren Frieden in neuen Winterreifen. Ihr Großvater wechselt die; auch für die Nachbarn.

Marie mag es nicht, eine ausgesprochen weite und tiefe Grube in ihre Vergangenheit gegraben zu haben; Dinge passierten – starrt sie zu lange über den Rand, kann sie mit Schwindel und Wut in den nächsten 72 Stunden rechnen. Marie musste für alle aufhören, die sie besitzen wollten. Marie konnte nicht wissen, dass man Menschen immer bei sich behalten kann, ohne sie bei sich zu haben. Marie mag Schweigen erst seit Kurzem und sie mag es, viel nicht zu mögen, dann weiß sie schneller, was sie mag.

© Magdalena Sturmbauer 2022-08-30