Prolog: Die leere Menge

Franz-Xaver Rohracher

by Franz-Xaver Rohracher

Story

Im Anfang war das Nichts.

Mathematiker nennen es die leere Menge und bezeichnen es mit zwei geschwungenen Klammern, die durch eine Lücke getrennt beziehungsweise verbunden sind. Sie umschließen die Leere und doch halten sie die Möglichkeit für alles Weitere in ihren Klauen.

Die leere Menge ist nicht leer.

Die leere Menge enthält alle geraden Zahlen, die zugleich ungerade sind; alle Symmetrieachsen, die eine kubische Funktion haben kann; alle irrationalen Wurzeln, die endlich viele Nachkommastellen besitzen.

Sie versammelt in sich alle Neutronen mit positiver oder negativer Elementarladung; alle Quanten mit scharfem Ort und scharfem Impuls; alle Massen, die die Raumzeit ohne KrĂĽmmung belassen.

Sie beherbergt alle Flöhe, die ein Kilogramm wiegen; alle Elefanten, die durch die Lüfte segeln; alle Haifische, die an Land leben; alle Hühner, die die Tiefsee bewohnen.

In ihr finden sich all die Menschen, die unfehlbar sind; die den wahren Glauben haben; die Recht von Unrecht unterscheiden können; die keinen Anteil an der Welt haben.

Und sie umfasst alle Bücher, alle Gemälde, alle Musikstücke, die niemand je geschrieben, gemalt oder komponiert hat; und die für immer ungelesen, ungesehen, ungehört bleiben.

Die Bedeutung der leeren Menge erwächst aus ihrer Unverwechselbarkeit.

Wie auch immer man sie definiert, wie auch immer man sie umschreibt – stets steht man vor demselben mathematischen Objekt mit derselben aufzählenden Darstellung. Einzig die leere Menge ist eindeutig und über jeden Zweifel erhaben. Nur sie ist über die Anzahl ihrer Bestandteile, ihrer Elemente, einwandfrei festgelegt. Alle anderen Mengen unterscheiden sich voneinander, selbst wenn sie dieselbe Mächtigkeit besitzen, sind subjektive Ausprägungen eines objektiven Begriffs.

Dem Symbol 7 stehen die Menge der sieben Wochentage, die Menge der sieben Wandelsterne der Antike, die Menge der sieben Weltwunder und die Menge der sieben Zwerge hinter den sieben Bergen gegenüber sowie unendlich viele weitere Repräsentanten dieser Zahl.

Die leere Menge, das Nichts, ist das einzig Verlässliche und somit die einzig vernünftige Wahl, um alles daraus zu erschaffen, um mit ihr alle weiteren Zahlen zu konstruieren, die den Menschen erst dazu befähigen, seine Umwelt zu erfassen. Indem er zählt, misst, in Beziehung setzt, rechnet, abschätzt, Hypothesen formuliert, induziert, deduziert, falsifiziert, interpoliert, regressiert, analysiert, integriert und differenziert, reflektiert, kondensiert und kommuniziert.

Die Mathematik hat begriffen, dass das Nichts nicht als Mangel anzusehen ist, nicht einfach als Abwesenheit von allem, sondern als Potential, als die Einheit all dessen, das noch wird oder noch werden kann, zumindest soweit es fĂĽr den menschlichen Geist erfassbar ist.

© Franz-Xaver Rohracher 2022-08-31

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