Radaus-Flug

Susanne Fahrnberger

by Susanne Fahrnberger

Story

Als Kinder war ein eigenes Rad für sie unerschwinglich. Wenn sie Glück hatten, durften sie ein paar Runden auf dem klobigen alten Rad des Nachbarn drehen. Manchmal holten sie es auch heimlich aus dem Keller, obwohl ihre kurzen Füße nicht vom Sattel zu den Pedalen reichten. Dann wechselten sie sich ab und fuhren stehend bis zu ihrem “Geheimplatz”. Doch das war egal, Hauptsache fahren. Diese Leidenschaft blieb den vier Schwestern ihr Leben lang erhalten. Kaum erlaubte es das Wetter, kam die Frage: „Was ist, fahr ma‘ wieder?“, und die prompte Antwort: “Klar,!” Auf diese Weise kamen sie viel herum im Land. Mit der Zeit gab es keine Straße, keinen Weg und vor allem kein Gasthaus, das sie nicht kannten. Die Ehemänner waren natürlich auch meistens mit von der Partie, obwohl sich eine Tour ohne sie viel mehr nach Abenteuer anfühlte. Mit den Jahren wurden die Ausflüge kürzer und die Fahrräder trugen dem steigenden Lebensalter Rechnung und waren inzwischen mit Elektroantrieb ausgestattet worden. An diesem Tag waren nur Lena und Rita unterwegs. Sie nahmen eine Route, die sie schon Jahre nicht mehr gefahren waren. „Schau, die haben die Häuser frisch renoviert“, rief Lena und drehte dabei den Kopf nach hinten. „Schau nach vorne!“, ermahnte sie Rita. „Was sagst du?“ Schon wieder wandte Lena sich um, ihre Hörgeräte lagen zu Hause auf dem Nachttisch. Durch die Verstärker hörte sich der Fahrtwind immer an wie ein Orkan. „Pass auf!“ Ein Hund rannte unvermutet auf die Straße. Ritas gellender Schrei veranlasste Lena ihr Rad gerade noch herumzureißen. Auf die Schrecksekunde folgte Ärger. „Nehmen sie gefälligst ihren Hund an die Leine, das ist ja lebensgefährlich!“, schrie sie den Besitzer an. Seine zornige Erwiderung verlor sich in der Ferne. “Lass mich vorne fahren.” Schon überholte Rita ihre Schwester, zwinkerte ihr verschwörerisch zu und schnitt dem wild gestikulierenden Hundebesitzer eine Grimasse nach hinten. Kurz darauf erblickte sie einen Mann auf einem Balkon, nur wenige Meter von der Straße entfernt, der ihr vage bekannt vorkam. Angestrengt versuchte sie, herauszufinden, wer das sein könnte und hob sicherheitshalber grüßend den Arm. Schließlich wollte sie nicht unhöflich erscheinen. Als sie die Augen wieder zur Straße richtete, nahm das Unglück bereits seinen Lauf. Der Drahtesel touchierte das parkende Auto und stoppte auf die Sekunde,- nicht aber Rita. Die hob ab wie eine Rakete, flog über das unerwartete Hindernis hinweg und landete schließlich unsanft auf der Straße, dicht gefolgt von Lena, die fast exakt der gleichen Flugbahn gefolgt war. Da lagen sie nun, beide Schwestern, halb übereinander auf der einen Seite des Wagens, die verbogenen Fahrräder auf der anderen. Der Beobachter vom Balkon, der, wie sich später herausgestellt hatte, kein Bekannter war, rief die Rettung. Es dauerte eine Weile, bis die Folgen dieser Flugstunde überwunden waren. Allein die Aussicht aufs Radfahren gab ihnen die Kraft dazu. Heute, fünf Jahre später, sitzen die Schwestern noch immer bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf dem Rad, und solange sie es noch schaffen, auf den Sattel zu kommen, werden sie weiter mit wehenden Haaren die Gegend unsicher machen. Und dann und wann besuchen sie ihren “Geheimplatz”, aber nur, wenn die Männer nicht dabei sind.


© Susanne Fahrnberger 2025-06-27

Genres
Humor & Satire
Moods
Abenteuerlich, Herausfordernd, Komisch, Inspirierend, Unbeschwert
Hashtags