by Lana Kister
Es war meine dritte Woche in der Anwaltskanzlei. Ich hatte mich bis dahin gut eingelebt und verstand mich besonders gut mit der jĂŒngsten RechtsanwĂ€ltin aus dem Team. Obwohl ich noch Referendarin war und ich mich jeden Tag aufs Neue gefragt habe, was ich hier eigentlich mache, hatte sie mir oft umfangreiche Mandate gegeben. Diese durfte ich auch selbststĂ€ndig und ohne ihr Beisein betreuen. Eins von den Mandaten blieb mir besonders in Erinnerung:
Eines Morgens betrat ich mein BĂŒro und fand eine Akte vor – darauf ein gelber Klebezettel: âBitte das heutige GesprĂ€ch mit der Mandantin um 15:00 Uhr wahrnehmen.â Ich war euphorisch. Endlich durfte ich ein MandantengesprĂ€ch ganz alleine fĂŒhren. Was frĂŒher nur Theorie war, wurde endlich zur Praxis. Ich schnappte mir also die braun verblasste Akte und stöberte sie durch. Es ging um eine Frau, mit zwei Kindern, die in einer Mietwohnung lebten. Ihnen wurde fristlos gekĂŒndigt, weil sie mit der Miete in Verzug waren. Da könnte nur noch ein persönliches GesprĂ€ch mit dem Vermieter helfen, dachte ich mir. Denn an sich besteht ein KĂŒndigungsgrund und die Mieterin könnte dem nur entkommen, wenn sie die MietrĂŒckstĂ€nde begleicht. Ich bereitete mich also eher auf ein kurzes GesprĂ€ch vor. Die Kanzlei vertrat viele Mieter. Oftmals waren es Mieter, die die Wohnung verpestet oder zerstört haben. Diese Mandanten sahen oft nicht ein, dass sie etwas Falsches gemacht haben. Gedanklich versuchte ich mich darauf einzustellen, dass es zwar ein kurzes, aber auch ein unangenehmes GesprĂ€ch wird.
Um 15:00 Uhr war es so weit. Ich stellte zwei GlĂ€ser Wasser auf den Tisch und wartete. Keine fĂŒnf Minuten spĂ€ter klopfte es an der TĂŒr. Eine kleine Frau, mit zerzaustem Haar, betrat Hand in Hand mit ihren beiden Kindern den Raum. Völlig aufgelöst setzte sie sich auf den Stuhl. Sie entschuldigte sich dafĂŒr, dass sie ihre Kinder mitgenommen hat. Sie hatte keinen, der auf sie hĂ€tte aufpassen können. Ihr Mann habe sie verlassen und zu den GroĂeltern bestehe kein Kontakt mehr. Ich versuchte sie zu besĂ€nftigen. Die Frau unterdrĂŒckte ein Schluchzen. Verzweifelt schaute sie mich an. Ich nickte ihr zu und gab ihr zu verstehen, dass sie mir alles erzĂ€hlen soll. Sie berichtete von ihrer aktuellen Lage. Ihr wurde der Job gekĂŒndigt und sie habe keine anderweitige UnterstĂŒtzung. Die Ămter wĂŒrden ihrer finanziellen Not nicht schnell genug abhelfen. Stattdessen bekĂ€me sie Unmengen an Formularen, die sie nicht verstand. Sie war ĂŒberfordert mit der BĂŒrokratie und wusste nicht mehr, wie sie es alleine schaffen sollte. Sie wolle doch nur, dass ihre Kinder ein Dach ĂŒber den Kopf haben. Nach einer Weile blickte sie mich mit verquollenen Augen an. âKönnen Sie mir bitte helfen?â
Und auf einmal war es nicht mehr nur ein Fall, den es zu gewinnen gab, es war viel mehr. Der Fall hatte ein Gesicht, eine Stimme, eine Persönlichkeit. Er hatte Ăngste und zugleich Hoffnungen. Er wollte kĂ€mpfen und gewinnen.
© Lana Kister 2022-08-19