by Känguru
Regentropfen fallen. Sie trommeln leise aufs Dach. Es klingt wie Musik in meinen Ohren. Ein Rhythmus entsteht, eine Melodie folgt. Ich schließe meine Augen und wiege den Kopf zur Musik. Bilder tauchen vor meinen Augen auf. Das Klassenfoto der Abschlussklasse in strömenden Regen. Meine Schwester und ich, wie wir in Gummistiefeln von Pfütze zu Pfütze springen.
Ich öffne die Augen und bewege mich langsam auf das Fenster zu. Dunkle, fast schwarze Wolken hängen bedrohlich über den Häusern. Jederzeit könnte es zu blitzen und donnern beginnen. Von der Landschaft kann man kaum etwas erkennen. Dichter Nebel verhüllt sie. So, als hätte sie etwas zu verbergen. Blitze zucken am Himmel. Ich wende meinen Blick vom Fenster ab und beginne, meinen Rucksack zu packen. Vielleicht kann ich irgendwann hierher zurückkehren. Ich hoffe es, denn ich liebe diese Gegend. Obwohl sie einem meist grau und verregnet erscheint, hat sie trotzdem etwas Eigenartiges an sich. Ich mag diese Landschaft so, wie sie ist.
Während ich die wichtigsten Kleidungsstücke einpacke, schweift mein Blick immer wieder zum Fenster. Hier habe ich viele Jahre verbracht. Jahre, die wie Monate vergangen sind. Nun muss ich weg. Ich lasse mich aufs Bett fallen und denke über das nach, was kommen wird. Ich werde dorthin zurückkehren, wo ich niemals war. Gestern habe ich erfahren, wer ich bin. Es ist unbegreiflich, dass ich immer dachte, das ist meine Familie. Ein Irrtum, wie ich gestern erfahren habe. Ich setze mich auf, rolle meine Bettdecke zusammen und stopfe sie in einen Plastiksack. Dann gehe ich nach unten in die Küche und packe Brot, Wasser und Käse in meinen Rucksack. Hoffentlich reicht das für ein paar Tage. Ich sinke auf meine Knie und spüre den Schmerz, der seit gestern in mir ist. Meine Eltern sind nicht meine Eltern. Und ich bin noch nicht einmal ein Adoptivkind. Ich bin ein Hungerkind. Tränen fließen über meine Wangen. Sie werden immer mehr. Mein T-Shirt ist schon ganz durchnässt. Kleine Bäche fließen an meinem Gesicht hinunter. Bereit, sich in reißende Ströme zu verwandeln. Weinend und wimmernd liege ich auf dem Boden. Ich bin leer, fühle mich verloren. Ein Hungerkind. Ich winde mich in meinem Schmerz, rolle mich zur Seite und höre die Stimme meiner vermeintlichen Mutter in meinem Kopf. „Steh auf!“, schreit sie, „Dein Leben ist mehr wert!“
Ich hole mir ein Blatt Papier und einen Stift. Während ich meiner Mutter einen Abschiedsbrief schreibe, tropfen meine Tränen auf das Papier. Ich danke ihr für die Jahre, die ich hier verbringen durfte. Dann lege ich den Stift zur Seite und gehe mit meinem Rucksack in der Hand aus dem Haus. Ich blicke das Haus, in dem ich viele Jahre meines Lebens verbracht habe, noch einmal an und denke an das, was vor mir liegt. Ich werde meine wahren Eltern treffen. Die, die mich nach meiner Geburt hierher gebracht haben. Sie ließen mich aufpäppeln, weil sie keine Nahrungsmittel für ein viertes Kind hatten. Der Krieg hatte auch bei ihnen Spuren hinterlassen.
Ich verlasse mein Elternhaus und steige in den nächsten Bus, der kommt. Regentropfen fallen, Sie trommeln leise auf das Dach des Busses. Sie begleiten mich.
© Känguru 2023-08-22