Regen im Haar, Sonne im Lachen

Laura Wiesinger

by Laura Wiesinger

Story

Und immer dann, wenn ihn die Einsamkeit zu verschlingen drohte, immer dann nahm er das Foto aus der blauen Schachtel, die auf der Fensterbank stand.

Die Farben waren mit der Zeit schon verblichen und es war von den unzähligen Malen, die er es in der Hand gehalten hatte, über und über mit Fingerabdrücken übersäht. Auf der Rückseite stand in geschwungenen Linien “Piran, 1952”. Vorsichtig strich er über das Foto und lächelte, kleine Fältchen bildeten sich rund um seine Augen. Er hätte nie gedacht, dass dieses, von der Zeit gezeichnete Foto einmal sein wertvollstes Besitztum sein würde.

Es zeigte sie, natürlich zeigte es sie; er hatte hunderte Fotos von ihr. Aber dennoch war dieses anders, besonders. Er hatte darauf genau den Moment eingefangen, an dem er sich in sie verliebt hatte.

Es war im September 1952 gewesen, an einem Spätsommertag, einem der letzten warmen Tage bevor der Herbst begann. Die Sonne hatte lange Schatten in die Gassen Pirans geworfen. Sie hatten im Meer gebadet, sich in den Wellen treiben lassen. Überall hatte sie die kleinen Dinge mit neugierigen Augen bestaunt, so als wäre das Glitzern auf dem Wasser etwas ganz Besonderes, als wären die kleinen Luftblasen, die sich zittrig ihren Weg an die Oberfläche bahnten etwas ganz Neues, als wären die Rufe der Möwen ein fremdartiges, wunderschönes Lied. Er hatte sie bewundert. Und dann später waren sie in eines der kleinen Restaurants in der Stadt gegangen und hatten den besten Fisch gegessen, den er jemals essen sollte. Und sie hatte ihn mit ihrer Art zum Lachen gebracht.

Doch als sie aus dem Restaurant wieder auf die Straße traten, hatte das Wetter umgeschlagen – Donner hallte in den Gassen wider und es regnete in Strömen. Die Menschen hatten geflucht, und sich in Hauseingängen Unterschlupf gesucht. Und dann kam der Moment, den er nie vergessen sollte: Sie hatte gelacht.

Sie hatte gelacht und die Arme ausgebreitet und war in den Regen getreten, mitten auf den nun menschenleeren Platz. Und sie hatte so wunderschön ausgesehen, barfuß in diesem durchnässten, roten Sommerkleid. Und dann hatte sie begonnen zu tanzen, sich zu drehen, herumzuwirbeln und dabei zu jubeln. Er hatte nie etwas Schöneres gesehen. Mit Regen im Haar und Sonne im Lachen hatte sie getanzt, wild und ungezähmt, frei und so voller Leben. Und er hatte seinen Fotoapparat genommen und diesen Moment festgehalten, den Moment, an dem er sich zum ersten Mal in sie verliebte. Es würden noch hunderte Momente wie dieser mit ihr folgen und doch war dieser einzigartig.

Und immer dann, wenn ihn die Einsamkeit zu verschlingen drohte, immer dann nahm er das Foto aus der blauen Schachtel, die auf der Fensterbank stand.

Und betrachtete sie, mit Regen auf den Wangen und Sonne in den Augen.

© Laura Wiesinger 2021-02-14

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