Rohe Gewalt

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Story

Der wievielte Femizid im heurigen Jahr ist es, der vor drei Tagen in Bludenz geschah? Der fünfundzwanzigste? Haben auch in anderen europäischen Ländern die Tötungen von Frauen (meist durch ihre Partner) in letzter Zeit so stark zugenommen?

Selber erfuhr ich in meiner Ehe mehrere Jahre lang fast täglich Gewalt, psychisch, oft auch physisch. Moritz ist schon seit rund sechs Jahren tot, da waren wir bereits geschieden. Aber mit Beginn des ersten Lockdowns im April 2020 war mir klar: Diese Situation hätte mein Exmann nicht lange ausgehalten und wäre noch häufiger als sonst aggressiv geworden.

Er brauchte ständig Gesellschaft und den Beifall eines Publikums, da er gern das große Wort führte. Auch seine Stammlokale und Bordelle hätte er bitter vermisst. Ganz sicher wäre er schon am ersten Tag ausgerastet und hätte zugeschlagen.

Aus den Medien erfahren wir, wie frau sich gegen körperliche Gewalt wehren kann. Im Prinzip klingt alles recht logisch. Dennoch ist es für Betroffene aus verschiedenen Gründen nicht immer einfach, sich damit zu behelfen. Hier muss wohl jede ihre eigene Methode finden.

Weglaufen war keine Option für mich, immerhin hatte ich keine Kinder zu schützen. Ich verfüge nicht nur über starke Nerven, sondern habe auch einen Selbstverteidigungskurs absolviert. Das ist zwar schon eine Weile her, aber da gibt es doch diesen Überraschungsgriff von unten in die feindlichen Nasenlöcher! Auch habe ich etliche Jahre lang Krafttraining gemacht und war deshalb mit einer Portion Selbstsicherheit ausgerüstet. Zudem war Moritz leicht zu durchschauen und einigermaßen berechenbar.

Ich versuchte stets, ruhig zu bleiben. In dieser Hinsicht war ich Moritz haushoch überlegen. Wenn ich spürte, dass er mich angreifen wollte, schrie ich, so laut ich konnte: „Schlag mich nicht!“ Das half immer, denn die Wände waren dünn. Meinem Mann war sehr daran gelegen, in den Augen anderer Leute untadelig und perfekt dazustehen.

Überhaupt war er schlagartig ruhig, wenn ich ebenso laut wurde wie er. Erstaunlich! Nur war das ganz und gar nicht meine Art. Als er einmal auf mich losgehen wollte, landete ich einen Schwinger auf seinen Mund. Da war er baff! Er rannte zum nächsten Spiegel und zerrte seine leicht blutende Unterlippe auseinander. Dann griff er nach Jackett und Schuhen. Wütend stieß er hervor: „Morgen bekommst du die Scheidungsklage!“ Doch solche Drohungen war ich längst gewohnt.

Der vielleicht entscheidende Schritt war, dass ich bei der Polizei alle relevanten Vorfälle zu Protokoll gab und es meinem Mann mitteilte, und dazu rate ich allen betroffenen Frauen. Moritz wurde von da an nicht mehr handgreiflich.

Mein Mann hatte mich als Sekretärin während der Renovationen seiner Häuser gebraucht. Diese waren abgeschlossen, als er in einem Tessiner Cabaret eine Brasilianerin kennenlernte, sie von ihrem Zuhälter freikaufte und die Scheidungsklage gegen mich einreichte: der finale Fußtritt. Eigentlich war es mir ganz recht.

© scritta 2022-09-04