Es war einmal ein Volk, dass sich Jugoslawen nannte und aus verschiedenen Nationen bestand. Da waren die Slowenen, die eigentlich mehr wie Österreicher waren und mit ihren Kindern Fahrradfahren gegangen sind. Etwas südlich davon die glücklichen Kroaten, denen der liebe Gott einen Zugang zum Meer geschenkt hatte. In Bosnien konnte man das zweite Jerusalem finden, wo Orthodoxie, Islam und der Katholizismus aufeinandertreffen. Östlich davon Serbien, dass Land das dabei half die Osmanen zu vertreiben. Weiter südlich Montenegro, das wunderschöne Nordmazedonien. Ob wir wollen oder nicht, die heilige Stätte Kosovo, die den gesamten Mythos des Balkans in sich trägt. Für eine lange Zeit lebte das gemischte Volk in Frieden und Einheit miteinander. Gemeinsam wanderten sie aus, arbeiteten, sprachen dieselbe Sprache und besuchten sich gegenseitig zu verschiedenen religiösen Festivitäten. Das alles gipfelte in eine Liebe zur Musik, zum Alkohol und Feiern.
Eines Tages beschlossen die Völker Jugoslawiens sich gegenseitig abzuschlachten, denn nach fast 50 Jahren, hatten sie festgestellt, dass sie unterschiedliche Religionen angehörten und doch nicht dieselbe Sprache sprachen. Auf einmal hassten sie sich. Sie mordeten einander. Das alles gipfelte in furchtbare Verbrechen: das Massaker in Ovčara, der Genozid von Srebrenica, das Massaker von Klečka, die Oluja, das Massaker von Gospić, der Genozid in Omarska, bei Prijedor, das Massaker von Ahmići, Grabovica bei Mostar. Ich könnte ewig so weitermachen. Das ist doch zum Heulen, denn hierbei haben sich Freunde, Nachbarn und Familienangehörige gegenseitig ermordet. Ja, selbst nach 30 Jahren, sind die Wunden nicht verheilt. Die Nachkommen dieses Volkes hatten den Krieg nie erlebt und doch achteten sie sehr streng darauf, die Wunden dieses Krieges weiterzutragen, anstatt beim Heilungsprozess zu helfen.
Doch, samstagabends, wenn die Sonne untergegangen war und die Jugoclubs sowie Kaffeehäuser ihre Pforten öffnen und der Sänger Šaban Šaulić anfängt zu singen: “Ich war ein Trinker”, sind die Leiden des Krieges in Vergessenheit geraden. Dann sind alle wieder Brüder, umarmen sich. Denn Šaban Saulić, ein atheistischer Moslem aus Serbien, singt für alle und ist für alle da. Dasselbe funktioniert übrigens auch mit Sinan Sakić, Lepa Brena, Bijelo Dugme usw. Wäre das die Lösung für das Pulverfass Balkan? Musik am laufenden Band? Es könnte funktionieren, bis sich nicht der Jahrestag der begangenen Kriegsverbrechen nähern, denn dann werden Ante, Alen und Aleksandar wieder zu Feinden. Vergessen ist dann das gemeinsame Alkoholereignis im “Viva” zu Sinans Lied “Ich trinke auf Ex”.
Und so befand sich das ehemalige Volk der Jugoslawen in einem ewigen Teufelskreis, hin- und hergerissen zwischen Hass, Vergebung und Vergangenheit. Wir brauchen einander. Wie wäre es, wenn wir Dodik, Izetbegović und Co. vertreiben, unsere Opfer anerkennen und gemeinsam trauern? Wir müssen kein Land sein, um gemeinsam Śaban Saulić zu hören und um uns zu respektieren. Ich meine, früher oder später, kommen doch alle in die Europäische Union und sind dann wieder Teil einer Gemeinschaft. Oder?
© Sandra Vujicic 2023-08-07