Unsere Genesung schritt langsam aber beständig voran. Helene absolvierte täglich ihr Geh- und Muskeltraining und das Feuer in meinem Bauch war zu einer nur noch schwach glimmenden Glut niedergebrannt. Doch in Helenes Erinnerung loderte nicht nur das Mündungsfeuer des Krieges. Sie hatte sich in der Reichshauptstadt gut eingelebt und mit ihrer Tätigkeit bei der Luftwaffe arrangiert. Der sechsmonatige Kriegshilfsdienst der jungen Frauen wurde auf unbestimmte Zeit verlängert, da der Führer in seinem Größenwahnsinn immer jüngere Männer als Kanonenfutter verheizte und die Frauen deren Plätze im Reich einnehmen mussten. Doch Helene war darüber nicht traurig, denn der Blitz hatte sie wie aus heiterem Himmel getroffen. Sie hatte sich verliebt:
„Schmuck sah er aus in seiner Uniform, ein Offizier und Gentleman der alten Schule. Er war einer meiner Vorgesetzten. Groß, schlank, braunes, lockiges Haar. Leider gab’s da einen Haken. Da er verheiratet war, hätte er seine Frau und seine drei Kinder niemals wegen einer törichten Arbeitsmaid verlassen, auch wenn diese ihn schlichtweg anhimmelte.” Ein Lächeln umspielte ihr Gesicht: “So träumte ich in den Nächten, in denen ich nicht im dunklen Luftschutzbunker um mein Leben bangen musste, von einer gemeinsamen friedlichen Zukunft, die in jeder Hinsicht eine Utopie war. Ende 1943 hatten die kriegerischen Auseinandersetzungen auch Berlin erreicht, feindliche Flieger warfen ihre Bomben über unseren Köpfen ab. Nach dem Attentat auf Hitler im Juli 44 wurden die Nazis immer nervöser, alles konnte als Angriff aufs Regime aufgefasst werden.”
“Wie meinen Sie das? Sie haben doch bestimmt keinen Umsturz geplant”. Ich konnte mir diese freundliche Pensionistin wirklich nicht als Agitatorin vorstellen.
“Einmal waren Trude und ich spät dran und wir mussten rennen, um die Straßenbahn zu erwischen.” Helene fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. “Da hat mir ein Windstoß den Hut meiner Uniform einfach vom Kopf geweht. Und der ist sprichwörtlich unter die Räder gekommen.” Die betagte Patientin lachte: “Das wurde mir im Ministerium als mutwilliger Sabotageakt angelastet. Aber mein Offizier hat ein gutes Wort für mich eingelegt und ich bin mit einer Verwarnung davongekommen. Ein anderes Mal war ich so ungeschickt, dass ich über die gespannten Schnüre, die die Flugrouten der Alliierten symbolisierten, gestolpert bin. “Sabotage”, haben sie geschrien, “sie arbeitet für den Feind! Sie hatten tatsächlich vor, mich vors Kriegsgericht zu stellen.”
“Schrecklich! Ich hoffe, dass Ihr Offizier Sie da rausgeboxt hat.”
“Franz hat mir und Trude zur Flucht aus Berlin verholfen. Sonst könnte ich Ihnen meine Geschichte heute nicht erzählen.”
© Silvia Peiker 2024-02-27