by Anke HĂĽper
In mir wuchert ein Dickicht aus angelesenem Halbwissen, das mich bevormundet und einengt. Ach, könnte ich doch noch einmal diese Geschichte ganz langsam, Wort für Wort, unvoreingenommen von vorne zu lesen beginnen, mit weitem, naivem Blick!
Ich räume mein Studierzimmer aus. Auch die Möbel. Nichts soll mich mehr ablenken. Ich schreibe diesen einen Satz – „Ach, sagte die Maus“ – auf einen Zettel und lege ihn in die Mitte auf den Fußboden. Dann gehe ich im leeren Raum spazieren. Ich schreite die Strecke von einer Wand zur anderen ab, ich schließe die Augen und versuche mich blind zu orientieren, Wand, Ecke, Wand, ich kehre zurück zur Mitte des Raumes, umkreise den Zettel. Eine Spur nur, ein Indiz. Der Satz liest sich, als ob er aus einer Erzählung herausgerissen ist. Eine sprechende Maus verleiht mit ihrem Ausruf „Ach“ einem Gefühl Ausdruck, das ich nicht identifizieren kann. Das weckt Detektivisches in mir. Warum sagt sie das? Warum seufzt sie nicht? Was ist geschehen? Was für ein Erlebnis, welches Ereignis, welcher Gedanke verbirgt sich hinter diesem „Ach“?
Muss ich mich nicht als Erstes fragen, wer die Maus ĂĽberhaupt ist? Offenbar hat der bestimmte Artikel so viel Macht, dass ich bereits zu wissen glaube, um welche Maus es sich handelt. Die Stadtmaus, die Landmaus, die Märchenmaus – die Maus, mit der ohne Zweifel ein Mensch gemeint sein soll.
Was eine Maus so umtreibt, scheint mir bekannt: Fressen, Feinde, Fortpflanzung. Aber was treibt die Maus um? Schlägt sie sich automatisch nur mit menschlichen Themen herum, weil sie ja sprechen kann? Oder umfasst die Welt dieser Maus sowohl Mäusisches als auch Menschliches? Unterscheiden sich diese beiden Welten überhaupt?
Ich hebe den Zettel vom Boden auf und trenne die Maus vorsichtig vom Rest ab. Ganz sachte lasse ich das Tierlein von meiner Handinnenfläche wieder auf den Boden gleiten. Was wird sie machen, läuft sie zur Wand, rast sie in eine Ecke, um den größtmöglichen Abstand zu mir zu finden, untersucht sie Unebenheiten, schadhafte Stellen an der Fußbodenleiste und den Spalt unter der Tür auf Möglichkeiten, zu entkommen oder sich zu verstecken? Wie schnell rennt sie? Wie weit kann sie schauen. Stellt sie sich gar tot? Oder wird sie mich angreifen, wenn ich mich nähere, so wie ich es einmal mit einer Ratte, die ich gefangen hatte, erlebt habe?
Was, wenn ich das Gespräch mit ihr suche? Wie begrüßt man eine Maus? Hallo? Servus, Maus? Vielleicht antwortet sie mit „Tach“, und ich finde auf diese Weise heraus, dass ihr Ach in Wahrheit eine genuschelte Begrüßung war.
Ich weiß, sie hält sich in einer völlig anderen Ebene auf als ich, genau besehen sogar in mehr als einer. Aber vielleicht gelingt es mir, die Ebenen dazu zu bringen, sich zu schneiden, damit wir auf der einen oder anderen Schnittgeraden gemeinsame Punkte finden.
Ach, könnte ich doch die Maus dazu bewegen, noch einmal „Ach“ zu sagen, aber so laut, dass ich es höre, denn bisher habe ich es ja nur gelesen und selbst gesprochen! Wie intoniert die Protagonistin höchstpersönlich ihr erstes Wort?
„Du bist raffiniert. Du willst, dass ich mich selbst deute“, sagt die Maus und frisst den Anfang vom Zettel.
© Anke Hüper 2024-09-07