Wenn ich an Friedrich Schiller denke, dann gehe ich mehr als 57 Jahre in meinem Leben zurĂŒck, sehe mich als HauptschĂŒlerin in der zweiten Klasse. Frau Direktor Adler, unsere geliebte Deutschlehrerin, machte uns MĂ€dchen mit dem DichterfĂŒrsten Friedrich Schiller bekannt und wir wussten noch nicht, dass das ziemlich lange âLied von der Glockeâ auf uns wartete. Noch heute höre ich ihre angenehme dunkle Stimme, wie sie uns mit dem Symbol der Glocke vertraut gemacht hat. Die Glocke begleitet uns Menschen ein ganzes Leben lang, findet doch die Taufe bei hellem Glockenklang statt, dann die Hochzeit, die das frischvermĂ€hlte Paar in einen neuen Lebensabschnitt fĂŒhrt, am Ende des Lebens die Sterbeglocke, die uns Menschen auf dem letzten Weg zum Grab begleitet. Auch bei Unwetter erklingen die Glocken, um die Menschen vor Unwettern zu warnen.
Und dann war es soweit. Wir mussten wöchentlich einen bestimmten Abschnitt dieses langen Gedichtes auswendig lernen. Die Schulung des GedÀchtnisses durch Auswendiglernen war ein anerkanntes Ziel im damaligen Lehrplan. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich in meinem Deutschbuch entsetzt die vielen Verse sah und mir dachte, das schaffe ich niemals!
Sogar das vorangestellte lateinische Motto: Vivos voco-Mortuos plango-Fulgura frango stand auf unserem Lernplan. Die Ăbersetzung: Ich rufe die Lebenden. Ich beweine die Verstorbenen. Ich zerbreche die Blitze! Diese Zeilen hatte unsere âAdlerâ an die Tafel geschrieben.
Mit offenem Mund starrten wir unsere Lehrerin an, als wir begriffen, was da auf uns wartete. Erika, meine Schulfreundin, meinte: âIch lerne das nicht, ich lasse mir ein NichtgenĂŒgend geben. Schwimmen ist mir lieber und bringt mir mehr!â, und diese Einstellung setzte sie auch um. âWie du meinstâ, antwortete die Deutschlehrerin mit ihrer dunklen Stimme.
Die erste Ăberraschung bereitete mir meine Grazer Oma in der Afritschgasse, bei der ich immer nach dem Unterricht ein gutes Mittagessen bekam. Auf die Frage: âWie war es in der Schule?â, antwortete ich mit einem Wortschwall der Wut und meine Oma konnte sich ĂŒberhaupt keinen Reim darauf machen, was mich so aus der Fassung gebracht hatte. Als sie aber endlich mein Dilemma begriff, lĂ€chelte sie und meinte: âChristerl, das kriegen wir zwei schon hin!â Und bevor sie mir meinen Goldrandteller mit ihrer âleckerenâ GemĂŒsesuppe fĂŒllte, stellte sie sich in die Mitte ihrer gemĂŒtlichen KĂŒche und rezitierte:
Fest gemauert in der Erden / Steht die Form aus Lehm gebrannt. Heute muss die Glocke werden! Frisch, Gesellen, seid zur Hand!
Von der Stirne heiĂ. Rinnen muss der SchweiĂ. Soll das Werk den Meister loben: Doch der Segen kommt von oben.
Mit viel GefĂŒhl rezitierte meine Grazer Oma diese gereimten Verse und ich hörte ihr mit Staunen zu. Dass sie als SchĂŒlerin dieses Gedicht auch lernen musste, das war jetzt fĂŒr mich klar, aber dass sie das Gedicht noch immer in ihrem GedĂ€chtnis gespeichert hatte, das war fĂŒr mich fast unglaublich.
© Christine BĂŒttner 2021-05-16