Schnell zum nördlichsten Punkt Europas

Christian H. Moser

by Christian H. Moser

Story

Endlich, der große Augenblick. Wir erreichten nach rund sechzig Stunden Autofahrt das Nordkap. In einer wahren Schnellschussaktion wurde diese Idee geboren. Mein Reisekollege organisierte kurzfristig einen Van, und los ging`s. Davor wurde noch heftig gekämpft beim Dorffußballturnier. Mit einem kräftigen Muskelkater und schmerzvollem Ziehen in den Adduktoren starteten wir knapp vor Mitternacht die Reise. Ein langer Weg stand uns bevor. Dass er dann so lange werden würde, mit dem hatten wir nicht gerechnet.

Trotzdem, wir wollten zum nördlichsten Punkt Europas. Eigentlich war er das 1994 noch nicht offiziell. Damals musste man die letzte Etappe mittels Fähre über Honningsvåg bewältigen. Erst 1999, mit dem Bau des Tunnels, wurde er der nördlichste über eine Straße erreichbare Punkt vom Festland Europas. Bis Trondheim verlief die Reise relativ schnell auf den gut ausgebauten, mehrspurigen, geradlinigen Autobahnen. Ein Straßenschild zeigte uns den Weg Richtung Norden. „Narvik 900 Kilometer”, stand darauf! Nur zum Vergleich: Von Bregenz quer durch Österreich bis nach Nickelsdorf im Burgenland sind es rund 700 Kilometer.

Hinter Trondheim wurde es immer einsamer, Dörfer und Häuser seltener. Man spürte mehr und mehr die Natur. Die Geradlinigkeit der Autobahn musste einem kurvigen Straßenverlauf durch Wälder, schöne Landschaften, entlang von Küsten und Fjorden weichen. Das Ausfahren der Fjorde zehrte nach dem gefühlten x-ten Fjord am Geduldsfaden. Die Straßen und Campingplätze gehörten uns fast allein. Ende August ist nicht mehr viel los. Zum Nordkap fährt man von Mai bis Juli, wo es nicht mehr dunkel wird. Ende August ist von diesem Zauber nicht mehr viel übrig.

Nach 4.000 Kilometern Anreise standen wir nun auf dem Nordkap-Plateau, 300 Meter über dem Polarmeer. Ein besonderes Erlebnis. Nur wenige Menschen hatten sich dorthin, so mochte man fast glauben, verirrt. Gemeinsam um das Wahrzeichen am Nordkap, dem Globus aus Stahl, versammelt, genoss man die Ruhe mit dem wunderbaren Ausblick über das Meer. Dieser Moment entschädigte für die vielen Reisestunden im Auto.

Wieder heimwärts ging es auf der anderen Seite der skandinavischen Halbinsel über das finnische Lappland nach Schweden. Je tiefer wir Richtung Süden vordrangen, desto lebendiger wurde das Leben. Knapp vor Stockholm liegt die bekannte Universitätsstadt Uppsala. Nach so viel Natur sehnte man sich nach dem Atem und Puls der Urbanität.

Diese Stadt schenkte noch viel mehr. In meiner Ausbildung hatten wir von einem gewissen Bischof Wulfila erfahren. Auf einmal standen wir vor seinem Werk, „Codex Artgenus” oder auch nur Silberbibel genannt, aus dem vierten Jahrhundert, der ältesten schriftlichen Bibelübersetzung in eine germanische Sprache. Von Natur bis Kultur führte uns in zehn Tagen und 8.000 Kilometern diese Schnellschussaktion, mit der späten Erkenntnis, dass man in der Schule viel gelernt hat.

Foto von Arvid Høidahl auf Unsplash

© Christian H. Moser 2021-03-05