Schokonikolaus

Monika Schuster

by Monika Schuster

Story

Ich sitze neben Lena in Bio und male in mein Heft. Über die Leinwand flimmert ein Film. Eine monotone Stimme erzählt uns von der Hierarchie eines Ameisenhügels. Es klopft. Der Konrektor Herr Braun kommt herein. Lena und ich tauschen uns leise über unsere Wochenendpläne aus, während die beiden Lehrer flüstern.

Da winkt mich Herr Braun zu sich. Lena und ich schauen uns an. Ich stehe auf und gehe durch den Ameisenhaufen zur Tür. Mitschüler werfen mir neugierig-fragende Blicke zu. Das ist das Letzte, was ich sehe, bevor ich allein mit Herrn Braun im Gang stehe. Ist etwas mit meinen Eltern passiert? Muss ich die Klasse wiederholen? Er schweigt und bedeutet mir, ihm zu folgen.

„Du kannst dir sicher denken, worum es geht“, sagt er unvermittelt. „Wir wissen, dass du es getan hast.“

Ich weiß sofort, was er damit meint. Ich fange an zu weinen.

Er führt mich in ein Zimmer, vielleicht ein Besprechungsraum. Er verweist mich auf meinen Platz. Am Tisch mir gegenüber sitzen aufgereiht die Schuldirektorin, Herr Braun, unsere Vertrauenslehrerin und meine Klassenleitung. Mir wird schlecht. Ich bin froh über den Stuhl, an dem ich mich festhalten kann. Mein Weinen erscheint ihnen als Schuldeingeständnis. Ich kann es an ihren Mienen ablesen. Ich warte auf eine Chance gehört zu werden. Bestimmt bin ich nicht die einzige, die heute befragt wird. Mit mir starten sie nur, weil ich mit Mara befreundet war.

Die Vertrauenslehrerin reicht mir ein Taschentuch. Ich schnäuze mich, schaue sie dankbar an, atme tief durch. Das hier ist Unrecht. Das hier wird sich aufklären. Mir wird mein Deutschheft vorgelegt. Daneben liegt, wie ich befürchtet habe, die anonyme Karte, die Mara am 6. Dezember zusammen mit einem Schokonikolaus erhalten hat. Der Grund, weshalb ihre Eltern sie von der Schule genommen haben.

„Wie du siehst“, sagt die Direktorin, „war es für uns nicht schwer herauszufinden, dass du die Verfasserin bist.“

Sie zeigt auf die i-Punkte. Kleine Kreise auf beiden Schriftstücken. Die Schuldirektorin, Herr Braun, unsere Vertrauenslehrerin, meine Klassenleitung – alle blicken mich erwartungsvoll an. Unter Tränen erkläre ich, dass Mara meine Freundin gewesen ist, dass ich traurig bin, dass sie die Schule gewechselt hat, dass ich so etwas nie tun würde. Die Erwachsenen sehen mich an, als wüssten sie es besser.

Schnell sprach sich das Ganze in der Schule herum. Ich weiß nicht, was schlimmer war: plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen oder die Tatsache, dass mir nahestehende Personen sich fragten, ob ich nicht doch die Verfasserin bin. Ein paar Tage später meldete sich die wahre Verfasserin. Vielleicht hatte die Wahrheit einfach hinausgemusst. Sie selbst war ein Rädchen in einer großen Gruppe an Mitläufern, Stillschweigern und Mobbern. Eine Gruppe aus Schülern und Lehrern.

Nach Maras Verschwinden klaffte eine Lücke im Sozialgefüge, in die bald jemand anderes nachrutschte.

Ich habe nie wieder kreisrunde i-Punkte geschrieben.

© Monika Schuster 2021-08-12

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