Schrankgeflüster

Stefan Lautenschläger

by Stefan Lautenschläger

Story

Ihr kennt mich. Alle von euch haben mich daheim. Ich beherberge Kleider, Haushaltsgegenstände, Spielzeug, Bettwäsche, Krimskrams. Manchmal beinhalte ich ein desaströses Chaos, manchmal zeuge ich von Ordnungszwang. Ich bin facettenreich, über mich könnt ihr euch ausdrücken. Ich habe Narben von Unfällen, die während eurer Umzüge geschahen, trete in den verschiedensten Farben auf und überrage euch nicht selten um einen Kopf, wenn nicht sogar mehr. Ich bin verlässlich, mir kann man vertrauen. Ich kann ein Geheimnis für mich behalten. Etwa dann, wenn jemand von euch in mir Zuflucht sucht.

Diese Person könnte verwirrt sein, könnte nicht wissen, wie es weitergeht. Selbsthass könnte in ihrer Seele wüten, fehlende Vorbereitung ihr Handeln widersprüchlich erscheinen lassen. Man könnte sie dafür hänseln, sie dafür auslachen. Lügen könnten verbreitet werden und Hass seine hässliche Fratze zur Schau stellen. Andere könnten aufhören, mit ihr zu reden. Die Person könnte für sie als abartig und gestorben abgestempelt werden. Oder deswegen tatsächlich sterben. Es gibt viele da draußen, die es nicht verstehen können. Oder besser gesagt verstehen wollen. Dabei ist es so einfach.

Vielleicht sucht ihr auch gemeinsam Zuflucht in mir. Ihr beide wisst nicht so richtig, was zu tun ist. Niemand hat euch beigebracht, wie man das macht. Das Schweigen sollte euer Interesse daran verhindern. So funktioniert das aber nicht. Ihr habt das realisiert. Euer Kuss beweist das. Erst zaghaft, dann begieriger. Euer Verlangen, geboren in euren Herzen und bis dahin in diesen verschlossen, kommt nun ans Tageslicht, in all seiner Verletzlichkeit und ungezügelten Hingabe. Ihr erkundet die Körper der jeweils anderen Person. Sie sind sich ähnlich und doch so unterschiedlich. Ihr wollt einander fühlen, euch selbst fühlen, wollt einander ertasten, riechen, schmecken. Ihr habt so lang darauf gewartet. Nun ist es so weit.

Bei meinem Vetter wird das etwas anders gehandhabt. Er tritt auch in den unterschiedlichsten Farben und Formen auf. Er befindet sich aber in der Öffentlichkeit. Das hat für euch einen Reiz, das lässt Fantasien und Sehnsüchte entstehen. In ihn wird ein Loch gebohrt, durch das dann ein ganz bestimmter Körperteil geschoben wird. Mit diesem hat dann die Person auf der anderen Seite ihren Spaß. Ich bin die langfristige Zuflucht, er der kurzfristige Mittelsmann. Wir haben beide unseren Nutzen für euch. Der eine länger, der andere kürzer.

Wie es wohl wäre, wäre all das von allen akzeptiert oder zumindest toleriert? Hätte ich dann noch einen Verwendungszweck? Würde man mich dann als anderweitigen Hort der Geheimnisse und Gedanken, Sehnsüchte und Träume verwenden? Und was für welche wären es dann? Vielleicht etwas Ausgefallenes? Darin habe ich ja schon Erfahrung. Ich kann es nicht sagen. Bis dahin werde ich aber weiterhin meine Aufgabe erfüllen.

Und das ein oder andere darüber zu flüstern haben.

© Stefan Lautenschläger 2022-08-30