Schreibübung: Eine Birne

Louise Ziegler

by Louise Ziegler

Story

Stell dir eine Birne vor. Was kommt dir in den Kopf? Schreibe es auf!

Ich schreibe das hier aus der Erinnerung. Zwar habe ich eine Birne in der Küche liegen, aber das ist reiner Zufall. Genauso könnte ich keine Birne in der Küche haben. Man kann sich nicht auf Zufälle verlassen. Mir fällt seit zehn Jahren nichts zu, also ignoriere ich nun auch die Birne in der Küche.

Birnen ähneln einer gewissen Frauensorte in einem bestimmten Lebensabschnitt. Ich denke an eine reife Frau zwischen vierzig und fünfzig Jahren, ein wenig oder eigentlich doch deutlich aus den Fugen geraten, aber dergestalt, dass dadurch eine Form von Weiblichkeit besonders betont wird. Hüfte und Oberschenkel sind füllig, geradezu dick, mit fester, wenn auch von leichten Dellen und Wellen überzogener Haut und weichem, prallem Fett darunter. Sie, die Frau, hat etwas Raues, sie ist lange nicht mehr naiv, sie weiß, was sie will, für ihren Körper, von einem Mann, und besteht darauf; sie ist verführerisch, ohne sich im Geringsten zu bemühen. Die Frau ist träge, behäbig, fast wie ein Walross, aber ihre Augen blitzen, auf ihren Lippen tanzt ein schwaches, laszives Lächeln. Sie hat alles gesehen und alles erlebt; nun will sie ihre reifen Jahre allein in Süße verbringen, ohne den kleinen Finger zu rühren. Die Frau selbst ist süß, unter ihrer herben Schale ist sie geschmeidig wie Butter und süß wie Nektar. Man könnte meinen, ihr Kern müsse zerfließen, würde die kräftige Schale ihn nicht beisammen halten, so konzentriert, so potenziert ist seine schwere Süße. Öffnet sie sich einem – und das tut sie im Zweifel schnell, denn bald ist der Zenit ihrer Reife überschritten -, zergeht sie auf der Zunge. Man wäre nicht gerne die Frau und doch beneidet man sie. Ihre Gelassenheit; die Leichtigkeit, mit der sie sich nimmt, was sie will, – nein, sie muss es sich gar nicht erst nehmen: es wird ihr gegeben; das wissende Funkeln ihrer Augen; die Bequemlichkeit all ihrer Bewegungen; sorglos nimmt sie tiefe Züge der Luft des Lebens. Einzig eine Sorge umtreibt sie von Zeit zu Zeit, eine einzige Sorge trübt das Blitzen für einen kurzen Moment und versetzt sie in bittere Anspannung: die Ahnung, dass die Kraft des Herbstes nicht mehr lange standhält und der eisige Winter Einzug hält.

Die Birne vor meinem inneren Auge liegt schwer auf dem Teller; sie nimmt viel Platz ein. Goldbraun mit grünen Sprenkeln, gedeckte Farben mit mattem Glanz wie angelaufener Schmuck ihn hat. Auf der einen Seite, der unteren, wenn sie aufrecht wäre, ist sie dick und rund und hat zuunterst einen kleinen, nabelartigen Abschluss, der von winzigen Blättchen gekrönt ist; nach oben hin wird sie gemächlich schlanker, ohne an Rundheit zu verlieren. Obenauf steckt ein kleiner, holziger Stil gewissermaßen in ihrem Kopf und rundet das Bild mit seiner Geradlinigkeit ab. Narben und kleine, dunkle Stellen sind hier und da auf ihrer Haut zu entdecken und zeugen von ihrer Empfindlichkeit; ungestört zu ruhen ist ihr am zuträglichsten. Die Rauheit ihrer Schale ist leichter zu durchbrechen als man denken würde, schnitte man zum ersten Mal in seinem Leben eine Birne auf. Stark, aber sehr dünn lässt sich die fein gekörnte Membran beinahe ohne Druck zerteilen. Obwohl man weiß, wie es darunter weitergeht, ist man überrascht wie schnell das Messer durch das zarte Weiß gleitet. Die pure Süße der Birne steigt einem dezent und verheißungsvoll in die Nase.

© Louise Ziegler 2025-02-26

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