Die raue, knochige Hand hatte kaum Gewicht. Ganz leicht fühlte sie sich an. Leicht und kalt. Leicht, kalt, schwielig und rau. Schwielig und rau von der Arbeit. Ein Leben lang hatte sie hart arbeiten müssen. Schon als Kind. Auf dem Bauernhof, wo sie nach ihrer Flucht eine Bleibe gefunden hatten. Nachts zu fünft in einem Zimmer, tagsüber meist auf dem Feld oder bei den Tieren. Aber es war eine Bleibe. Dafür wurde verlangt, dass sie arbeiteten.
Nach Kriegsende ein kleines Haus in einem kleinen Dorf. Wenige Jahre durfte sie zur Schule gehen. Rechnen und Schreiben lernen. Schreiben und lesen. Das hatte sie geliebt. Die Vormittage, wenn ihnen der Lehrer Gedichte vortrug, ihnen zeigte, was Wörter konnten. Wörter konnten einen entführen, mitnehmen, weit fort bringen, in fremde Welten, in ungeahnte Höhen, in tiefste Tiefen. Wörter konnten einen zum Lachen bringen. Oder zum Nachdenken. Oder zum Weinen. Manchmal alles drei.
Viel zu kurz waren die Vormittage. Nachmittags musste sie arbeiten. Musste auf einem Hof im Dorf helfen. Ein anderer Hof, die gleiche Arbeit. Ausmisten, Kartoffeln klauben, Heu zusammenrechen. Im Winter fanden sich andere Arbeiten. Wäsche flicken und Socken stopfen. Die Arbeit des Vaters reichte nicht für die Familie. Einen eigenen Bürstenladen hatte er besessen. Früher. Vor der Flucht. Von Nagelbürsten über Schuhbürsten, Handbürsten bis hin zu großen Besen für Werkstätten hatte er im Sortiment. Alles handgemacht. Dann kam der Krieg, kamen die Soldaten, die Panzer. Sie mussten weg. Die Bürsten blieben. Was aus ihnen geworden ist? Wer weiß? Hier gab es keinen Bürstenmacher. Geld für eine eigene Werkstatt hatte der Vater nicht. Also ging er Untertage, wurde Kumpel. Ehrliches Geld für harte Arbeit hieß es. Ehrlich ja, viel nein. Deswegen mussten die Kinder auch arbeiten.
Sobald sie alt genug waren, mussten sie von zu Hause fort. Emine war die jüngste. Ihr Bruder war fünf, ihre Schwester drei Jahre älter. Beide vor Jahren ausgezogen. Beide mit 14. Ihr Bruder zur Metzgerlehre, ihre Schwester zur Haushaltsschule. Dann wurde sie Hausmädchen bei einer vermögenden Familie. Angeblich adelig, in jedem Fall wohlhabend. Emine fand eine Anstellung in der Tuchfabrik. Kost, Logis, Taschengeld. Mehr war es nicht. Die Schwielen und Blasen an den Händen gab es obendrauf. Hübsch und klug fand sie bald einen Verehrer – trotz der wenigen Freizeit. Als die Tuchfabrik pleiteging, war sie schwanger. Schnell wurde geheiratet. Für beide war es Liebe. Sie waren glücklich. Beide arbeiteten hart in der eigenen Bäckerei. Sie kümmerte sich nebenbei um die beiden Kinder, er um die Abrechnung. Er war 73, als sie das Geschäft aufgaben, sie 71. Ihre Arbeit galt nun der Familie, Kinder und Enkel. Und der Gemeinde. Ehrenamtlich. Kirchenschmuck und Seniorencafé. Viele jünger als sie, aber nicht so rüstig.
Nun lag sie selbst. Nicht mehr rüstig. Nur noch Knochen. Eine knochige kalte Hand in der Hand ihrer Enkelin. Schwielig und rau. Ihre Enkelin spürte, was ihre Oma gegeben hatte. Für alle um sie herum. Sie hatte die Welt für alle ein wenig besser gemacht. Vor allem die ihrer Enkelin, in deren Augen sie nun blickte. „Danke“, sagte Monika zu ihr. Ganz leise, kaum hörbar. Emine wusste es. Sie drückte ihre Hand. Ganz leicht. Ein letztes Mal.
© Stefan Landgraf 2024-01-16