Scio, puella pulchra fuit.

MISERANDVS

by MISERANDVS

Story

Es ist kurz vor vier. Ich kann nicht schlafen. Mal wieder. Die Glotze läuft. Ich sehe nicht hin. Ich lieg im Bett, den Blick an die Decke und denke an Lydia. Langsam wandert mein geistiger Blick durch die Erde hinab, durch das Holz, zu ihr, wie sie da liegt, im Dunkeln, in der Stille. Und ich denke: Wie sie wohl aussehen mag? Erst frage ich mich nur, wie sie ihr wohl das lange, schwarze Haar gemacht haben. Ich hoffe, jemand hat es ihr gekämmt. Sanft, damit es nicht ziept, langsam, Strich um Strich, mit einer weichen Bürste vielleicht. Ob sie es ihr zu einem Dutt geknotet haben, wie sie es gerne trug? Vielleicht einmal gewunden und mit dem schönen Nussholzstäbchen hochgestekt? Oder hat sie die Haare offen und liegt darauf schneewittchengleich? Doch ich fürchte, sie hatten ihr die schönen langen Haare längst abgeschnitten, in den Jahren im Koma, weil es pflegeleichter war so. Ihr Vater meinte, ihre Glieder seien im Wachkoma verkrampft gewesen. Ob sich Muskeln auch bei Komapatienten entspannen, wenn sie sterben? Oder sind sie so verhärtet, dass Lydia auch jetzt noch mit verkrampften Gliedmaßen da liegt? Bei dem Gedanken daran, dass jemand in der Pathologie mit Gewalt versucht haben könnte, ihre Hände und Finger gradezudrücken, beginne ich zu weinen. Ich hab gelesen, man verschließt Toten die Körperöffnungen mit Zellstoff, damit keine Flüssigkeiten austreten. Die Vorstellung, ein fremder Mensch muss ihr Watte in den Mund, die Nase und überall sonst mit einem Instrument oder den Fingern hineingeschoben haben, tut mir im Herzen unendlich weh.

Vier Wochen sind es nun, die sie da liegt. Immer detaillierter und entsetzlicher werden meine Bilder im Kopf von ihr, wie sie verfällt. Wie ihr filigraner Leib sich durch die Faulgase aufgebläht hat. Wie sich die stets gepflegten Nägel erst blau, dann schwarz verfärbt haben müssen, wie die Haut an den schlanken Fingern langsam vertrocknet und ganz faltig wird. Wie ihre Wangen einfallen, wie ihre stets liebeswarmen Augen, blickgebrochen, langsam in den Augenhöhlen zurückwandern und die Lider einsinken. Ich weine so sehr inzwischen, dass ich nur noch schnappatmig um Luft ringen kann, und mit geöffnetem Mund stimmlos versuche zu schreien, bei dem Gedanken daran, wie sie in den eigenen stinkenden Körpersäften liegt und langsam vergammelt.

Warum denke ich das? Warum quäl ich mich mit diesen furchtbaren Bildern, die ich mir bis ins kleinste Detail ausmale, bis mir der Schädel pocht und ich darüber wahnsinnig werden möchte?

Lydia war für mich – trotz ihrer Bulimie – der schönste Mensch, den ich je gesehen habe. Sie nur anzusehen, erfüllte mich mit Glück. Und wenn ich ihr sagte: “Wie wunderschön du bist!”, schaute sie jedesmal ganz ungläubig, als hätte das noch nie zuvor jemand zu ihr gesagt. Dann lächelte sie, weil sie’s mir glaubte, und sie küsste mich und drückte sich an mich.

Mein Herz kämpft verzweifelt gegen meinen Verstand, der mir das schöne Bild von ihr mit aller Kraft zerstören will.

© MISERANDVS 2021-05-31

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