sechs

Christina Frey

by Christina Frey

Story

Die Regentropfen prasselten unermüdlich an die Fensterscheiben; gerade so, als wäre die Fensterscheibe unsere heteronormative, zumindest nach außen hin monogam ausgerichtete Gesellschaft und als wollte sich jeder einzelne der Tropfen gegen ebendiese auflehnen.

Ich befand mich irgendwo zwischen hier und dort; zwischen Gut und Böse; zwischen Diesseits und Jenseits; meiner Vergangenheit und meiner Zukunft.

Ich war unterwegs zu ihm und gleichzeitig zu mir selbst – zumindest hatte ich das angenommen. Aber wonach genau suchte ich? Wohin hatte ich mich aufgemacht? Was war das Ziel meiner Reise?

Die letzten Jahre hatte ich mich so unglaublich zu Hause gefühlt. Geerdet. Verankert. Endlich angekommen. So, als würde mich nichts und niemand je mehr aus der Bahn werfen können. Nach all den Schlachten, die es auszutragen – ja, zu überleben gegolten hatte. Aber wie sagte meine Oma immer so schön? Hochmut kommt vor – dem Fall. Keine Ahnung, ob ich es später als Fall bewerten würde; damals was es für mich jedenfalls eine Reise. Wortwörtlich – und sprichwörtlich.

Der Duft von billigem Bordrestaurant-Kaffee breitete sich unter meiner Nase aus; meine Maske konnte ihn – im Gegensatz zu den wirren Windungen meiner Gedanken – etwas aus der Luft und somit meiner Wahrnehmung filtern.

Was würden die kommenden Tage bringen? Ich wusste es nicht. Es war eine Reise ins Unbekannte.

Gefesselt von Worten und der Geschichte eines Menschen, den ich bis dahin nur von Fotos kannte. Ist es legitim, Gefühle für jemanden zu entwickeln, in dessen Augen man noch niemals geblickt hat? Ich war unsicher. Aber da mich jedes Knattern der Gleise unter mir und jedes Quietschen der Schienen ohnehin und unumgänglich weiter aus meiner Komfortzone hinaus katapultierte und der Zug erst wieder an irgendeinem Bahnhof in einem mir fremden Land halten würde, war es jetzt für Fragen wie diese ohnehin zu spät –

zumindest für den Moment.

© Christina Frey 2022-12-29

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