(Selbst)verlust

Katharina Geiger

by Katharina Geiger

Story

Zitternd saß sie mit angewinkelten Beinen an einer fremden Hauswand. Ihr Gesicht war nass, obwohl es nicht regnete. Ihre Tränen sorgten dafür, dass ihr Make-up zerfloss. Es war ihr egal. Sie blickte an sich herab, sah ihr weißes Kleid, auf dem vereinzelte rote Sprenkel zu erkennen waren als hätte sie Tomatensoße gegessen. Es war keine Tomatensoße. Ihr Blick wanderte noch weiter hinab auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Sie waren tiefrot. Es war keine Tomatensoße. Das – war Blut. Nicht ihr Blut – zumindest nicht nur.

Niemals hätte sie gedacht, dass sie das Messer benutzen wĂĽrde. NatĂĽrlich hatte sie in ihren Gedanken verschiedene Szenarien durchgespielt. Ihr Freund hatte darauf bestanden, dass sie das tat, bevor sie sich ein Messer kaufte. “Wenn du nicht bereit bist, damit zu töten, dann hab besser keins dabei, bevor du es vor Schreck fallen lässt und es dir zum Verhängnis wird. Getötet mit dem eigenen Messer. Genau so endet es dann nämlich.” Seine Worte hallten in ihrem Kopf nach. Doch so oft und so intensiv sie auch darĂĽber nachgedacht hatte, sie hatte keine Antwort finden können. Nun hatte sie eine Antwort. Doch ihrem Freund wĂĽrde sie diese nicht mehr erklären können.

Als ihr Blick auf das Messer neben sich fiel, hörte sie auf zu zittern. Es war als hätte sich ein Schleier über sie gelegt – als wäre sie nicht mehr sie selbst. Regelrecht leer. Nur die Hülle ihres Selbsts. Emotionslos hob sie das Messer auf und fing an sich Buchstaben auf den nackten Oberschenkel zu ritzen. Du darfst nicht töten. Sie spürte keinen Schmerz und sah nur das Blut aus der frischen Wunde rinnen. Du darfst nicht töten.

Ihr Blick wandte sich ab und wurde um die Ecke gelenkt von einer fremden Kraft, die nicht sie war, – oder vielleicht doch? Sie wusste es nicht mehr – magisch angezogen vom Meisterwerk der Dunkelheit, das sie so völlig ausfüllte.

Dort lag er. Völlig regungslos. Fast friedlich. Sie fühlte nichts. Noch immer fühlte sie nichts. Sie wandte den Blick wieder ab und sich selbst zu. Du darfst nicht töten. Wieder und wieder ritzte sie den Satz in ihre Haut. Bei jedem Vollenden des Satzes spürte sie einen Hauch von Erleichterung. Erleichterung im Schmerz. Sie war völlig konzentriert auf diese eine Tätigkeit, die ihr half zu fühlen, sich zu spüren. Wenn auch nur ein bisschen.

Es hätten Stunden vergangen sein können oder Minuten als sich ein groĂźer Schatten ĂĽber sie legte. Als sie aufsah, blendete sie das Licht einer Taschenlampe. “Mitkommen!”, befahl eine donnernde Stimme. “Du darfst nicht töten”, murmelte sie als sie sich vom Boden erhob, eine Spur von Blut hinter sich herziehend. Als sie an der StraĂźe vorbeiging, in der seine Leiche lag, musste sie unweigerlich grinsen. Stolz erfĂĽllte sie. Du. Darfst. Nicht. Morden.

© Katharina Geiger 2025-01-09

Genres
Novels & Stories, Suspense & Horror
Moods
Dunkel, Emotional, Traurig, Angespannt